Auf den Kellner kommt es an

■ Kohl geht, Rot-Grün kommt. Doch von einem wirklichen Politikwechsel ist in Deutschland noch nicht viel zu spüren

Jetzt wird erst einmal gefeiert. Was die Sozialdemokraten so unter feiern verstehen. Mit jedem neuen Interview schaute der kommende Kanzler finsterer in die Kamera, und Oskar Lafontaine machte in der Bonner Runde den Eindruck, als hätte er einen Verlust von sechs Prozent zu vertreten und nicht Herr Dr. Kohl, der dagegen auffallend fidel wirkte.

Noch nie hat es in der Geschichte der Bundesrepublik einen solch grandiosen Sieg gegeben – und noch nie sah man so bedrückte Sieger. Das Bewußtsein der kommenden Verantwortung schien sich wie eine Bleiplatte auf das Gemüt der führenden Sozialdemokraten gelegt zu haben. Wer geglaubt hat, die Zurückhaltung, Schröders Dauerbekenntnis zu Kontinuität und Stabilität, sei der Honig auf dem Maul der neuen Mitte, mußte mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, daß dieses Mal Wahlsieger wie Wahlkämpfer reden. Oberste Maxime: erst einmal gar nichts sagen. Ruhe ist die erste Siegerpflicht.

Die vereinzelten „Jetzt geht's los“-Rufe im Ollenhauer-Haus wirkten so deplaziert, wie wenn jemand in der Kirche einen unanständigen Witz erzählt. Selbst am Montag morgen schien der Schock noch anzuhalten. Auf drängende Fragen, was die SPD denn nun zu tun gedenke, wußte der Organisator des Sieges, Franz Müntefering, nicht viel mehr zu sagen, als daß man nun nichts überstürzen werde.

Da war nicht nur kein Triumphalismus, sondern nur ungläubiges Erschrecken. Erschrecken, daß der Übervater der deutschen Politik jetzt tatsächlich gehen wird – deutsche Politik ohne Kohl, selbst Schröder konnte es kaum fassen. Ziemlich schnell muß ihm auch gedämmert haben, welche enorme Erwartung jetzt auf ihn zukommt. Der Sieg Schröders ist so überwältigend, daß er sich hinter niemandem verstecken kann. Eine Große Koalition wäre ja nicht nur Teilen von Macht, sondern auch Teilen von Verantwortung.

So sehr die Konservativen in Deutschland davon überzeugt sind, daß Machtausübung mehr oder weniger ihr natürliches Recht ist, so sehr glaubt die SPD, daß ihnen diese Rolle eigentlich gar nicht zusteht. Zumal nach 16 Jahren in der Opposition, einer ganzen Riege gedemütigter Kanzlerkandidaten und einer erst seit einem knappen Jahr wieder wirklich funktionsfähigen Partei.

Am Wahlabend schien es, als würde Schröder sein vollmundiges „Ich bin bereit“ wie ein Menetekel an der Wand erscheinen. Jetzt muß er der Republik beweisen, daß er nicht nur bereit, sondern auch in der Lage ist, eine der wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt zu führen. Im Wahlkampf wurde es für die SPD geradezu zum Kult, nichts zu inhaltlichen Fragen zu sagen. Stolz erzählte Müntefering ein ums andere Mal, er habe noch nie jemanden getroffen, der die SPD nach Lektüre ihres Programms gewählt habe. Das klang fast so, als brauche man auch keins. Jetzt stellt sich die Frage „Was nun, Herr Schröder?“ jedoch wieder ganz neu. Jetzt muß das Programm raus aus der Schublade, und für alle Beteiligten ist zu hoffen, daß trotz des dezidiert unprogrammatischen Wahlkampfes auch etwas in der Schublade drin ist.

Was jetzt kommt, ist Schröder pur. 6,7 Prozent sind kein Sockel, von dem aus die Grünen „in Augenhöhe“ mit einem 41 Prozent starken Partner verhandeln können. Schröders Spruch vom Koch und dem Kellner wird nun in einer Weise Realität, daß selbst der vermeintlich große Macher Angst vor der eigenen Courage bekommt. Wenn die Suppe einmal versalzen ist, läßt sich das auf niemanden abschieben.

Die Grünen sind durch dieses Ergebnis eher entlastet. Wenn sie sich für eine Beteiligung an einer Regierung Schröder entscheiden – und nichts spricht dafür, daß sie sich diese Chance entgehen lassen –, haben sie wohl das letzte Mal in dieser Legislaturperiode eine echte Entscheidung getroffen. Danach kocht Schröder. Vielleicht wird Joschka Fischer aber demnächst feststellen, daß Kellnern auch ganz schön ist. Er kann sich darauf beschränken, das Gericht zu servieren. Man soll das nicht unterschätzen. Wer je unter unleidlichen Kellnern gelitten hat, weiß, was guter Service wert ist. Auch das Trinkgeld geht in der Regel an den Kellner und nicht an den Koch. Dazu kommt, daß ein guter Koch die Anregungen des Kellners zu würdigen weiß, schließlich muß der das Menü mit Überzeugung unter die Leute bringen können. Zur Freude des Gastes darf der Kellner deshalb auch ab und zu eine grüne Verzierung anbringen.

Die Küche, hat Schröder bereits versprochen, wird dem Gast erst einmal keine große Umgewöhnung abverlangen. Zudem soll der Teller voll bleiben. Diät ist sowenig angesagt wie postmoderne Kleinstgerichte. Die Grünen wissen das. Entscheiden sie sich jetzt dafür mitzumachen, kann die Partei später nicht meckern, die grüne Garnierung sei zu mickrig ausgefallen. Man wird in den kommenden Tagen sehen, ob Schröder klug genug ist, den Grünen aus freien Stücken soviel anzubieten, daß er sich der Loyalität seines Partners sicher sein kann. Folgt er der Empfehlung der Frankfurter Allgemeinen und führt die Koalitions- als „Kapitulationsverhandlungen“, legt er sich ohne Not einen Sprengsatz unter den Kabinettstisch.

Statt dessen kommt jetzt die Stunde der symbolischen Gesten, der atmosphärischen Veränderungen, der kulturellen Zeichen. Das kostet im monetären Sinne wenig und kann doch gesellschaftlich viel bewegen. Ein neues Staatsbürgerschaftsrecht und eine doppelte Staatsbürgerschaft wird das Bewußtsein der Republik verändern. Die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensverhältnisse wird zeigen, daß Deutschland in der Moderne angekommen ist, und eine von Michael Naumann angezettelte Debatte um das Selbstverständnis der Berliner Republik wird möglicherweise dazu führen, daß die Apathie der Kohl- Ära einer munteren Auseinandersetzung weicht.

Schröder kann sich unterdessen seinem Bündnis für Arbeit widmen. Dort wird sich zeigen, auf welche gesellschaftlichen Kräfte er wirklich Rücksicht nehmen muß, dort werden die Entscheidungen fallen, die finanziell wirklich relevant sind. Der Einstieg in den Atomausstieg, der ökologische Umbau der Gesellschaft, eine ökologische Steuerreform und wie sie aussehen wird – darauf werden die Grünen kaum Einfluß haben. Das gilt wohl auch für die Außenpolitik. Kontinuität ist für den außenpolitischen Newcomer Schröder oberste Kanzlerpflicht – schlechte Aussichten für einen Außenminister Fischer. Aber Kellner sollen ja auch nicht in der Welt herumreisen, sondern zu Hause das Essen reichen. Jürgen Gottschlich