: Spritzen für weibliche Gefangene
■ Nach Niedersachsen und Hamburg hat nun das Land Berlin im Frauenknast Lichtenberg Spritzenautomaten für Drogenabhängige aufgestellt. Bedienstete sind nach wie vor skeptisch
Die Automaten aus Edelstahl sind nicht viel größer als Schuhkartons. Ihr Design ist so schlicht und unauffällig, daß sie nach der Installation in den Fluren der Frauenhaftanstalt Lichtenberg von einigen Justizbediensteten überhaupt nicht wahrgenommen wurden. „Was? Die kleinen Dinger sind das?“ lauteten die Kommentare.
Bei den „kleinen Dingern“ handelt es sich um Spritzenautomaten. Nach jahrelangen heißen Diskussionen um das Für und Wider können sich nun auch in Berlin erstmals drogenabhängige Inhaftierte sterile Spritzen aus Automaten ziehen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Das vor wenigen Tagen in der Frauenhaftanstalt Lichtenberg gestartete Modellprojekt wurde gestern der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Versuch ist auf vier Jahre angelegt und wird wissenschaftlich begleitet.
In dem Frauenknast befinden sich zur Zeit 80 Insassen, die Hälfte davon sind Drogenabhängige aus Berlin und Brandenburg. Nach Niedersachsen und Hamburg ist Berlin das dritte Bundesland, das in einer ausgewählten Haftanstalt einen solchen Modellversuch durchführt. Das Vorhaben wurde 1996 vom Abgeordnetenhaus beschlossen, sogar die CDU stimmte dafür. Der Drogenreferatsleiter der Senatsverwaltung für Justiz, Volker Küster, zeigte sich gestern „zuversichtlich“, daß im Winter im kleinen Männerknast Lehrter Straße ein ähnliches Projekt begonnen werden könne. Bei positiven Verlauf hält Küster auch eine Erprobung der Spritzenvergabe im Männerknast Tegel für denkbar.
Daß im Knast Drogen konsumiert werden und sich die Insassen durch den Austausch von benutzten Spritzen mit HIV oder Hepatitis infizieren, ist bekannt. Von den rund 5.000 Gefangenen in Berlins Knästen sind nach Schätzung der Berliner Aids-Hilfe 800 bis 900 Insassen drogenabhängig, die meisten davon sitzen in Tegel ein. Mindestens die Häfte der drogenabhängigen Knackis sind nach Schätzung der Aids-Hilfe HIV-positiv. Der Leiter der Frauenhaftanstalt Lichtenberg, Matthias Blümel, berichtete gestern, daß einige drogenabhängige Frauen mit Worten wie „Na, endlich“ auf die Aufstellung der Automaten reagiert hätten. Zum Beginn des Projekts wurde den abhängigen Insassen laut Blümel ein Etui mit einer Spritzenattrappe in den Schreibtisch gelegt. Nach Einwurf der Attrappe wirft der Automat eine Einwegspritze aus. Diese kann nach Gebrauch in dem Automaten wiederum gegen eine neue ausgetauscht werden. Im Gegensatz zum Anstaltsleiter hatte ein Gruppenleiter negative Reaktionen gehört. Es gebe Insassen, die wegen der alleinigen Existenz des Etuis in ihrer Schublade die Sorge geäußert hätten, wieder rückfällig zu werden.
Die Begeisterung der Bediensteten über die Neuerung hält sich ganz offenbar in Grenzen. Eine Vertreterin des Personalrats verwies gestern auf eine Umfrage, derzufolge sich 80 Prozent des Justizpersonals gegen eine Spritzenvergabe ausgesprochen haben. Nachdem es nun aber trotzdem politisch gewollt sei, „werden wir das Projekt kritisch, aber durchaus loyal begleiten“. Die größte Angst der Beamten sei, bei einer Zellendurchung unversehens in eine Kanüle zu fassen. Die Gefahr sei früher wesentlich größer gewesen, entgegnete der Mitarbeiter der Berliner Aids-Hilfe, Fredi Lang. Er verwies auf die positiven Ergebnisse im Schweizer Knast Hindelbank, in dem das Verfahren seit über fünf Jahren praktiziert wird. Über 10.000 Spritzen sind laut Lang getauscht worden, kein einziger Beamter habe sich an einer Kanüle verletzt. Die jährlichen Überdosen der Insassen hätten sich von 19 auf 2 reduziert. Wie gestern zu erfahren war, werden inzwischen in allen Knästen im Kanton Bern Spritzen ausgegeben. Im Schweizer Knast Oberschöngrün wurde probeweise sogar mit der Heroin- Originalstoffvergabe begonnen. Plutonia Plarre
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