: Ehrung für die Bekämpfung von Armut
Der Nobelpreis für Wirtschaft wird in diesem Jahr an Amartya Sen verliehen. Der Wissenschaftler aus Indien forscht über die „Wohlfahrt“ von Gesellschaften und erstellt Indikatoren für den Reichtum eines Landes ■ Von Rudolf Hickel
Die diesjährige Vergabe des Nobelpreises für Ökonomie ist ein positives Signal für die Wirtschaftswissenschaft, die sich auf die theoretisch begründete Bekämpfung von ungleicher Einkommensverteilung und Armut konzentriert. Den Preis erhält der in Bengal (Indien) geborene Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen, der seit Jahren am Trinity College in Cambridge (Großbritannien) lehrt und forscht.
Im Mittelpunkt seiner Veröffentlichungen steht sein epochales Werk: „Collective Choice and Social Welfare“ (1970). Das Buch ist theoretisch anspruchsvoll, wird aber an deutschen Universitäten kaum gelehrt. Die neoklassiche Marktorthodoxie verdrängt nämlich die Frage, zu welchen untauglichen Ergebnissen der Marktindividualismus für die Gesamtwirtschaft führen kann.
Sen interessiert sich dagegen für die Differenz zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlicher Rationalität. Seine Forschungen über die Wohlfahrt (welfare) einer Gesellschaft gehen davon aus, daß Individuen nach sehr unterschiedlichen Präferenzen ökonomisch entscheiden. Sen fragt, was gesamtgesellschaftlich dabei herauskommt. Er versucht einerseits, den Status der Wohlfahrt einer Gesellschaft zu beschreiben. Andererseits zeigt er, wie auf dieser Basis notwendige kollektive Entscheidungen rational getroffen werden können. So liefert er Methoden, um die ungleiche Einkommensverteilung in Deutschland zu beschreiben und sucht nach Regeln, diese abzubauen. Diese Lösung ist schwierig, denn die Entscheidung auf der Basis der Mehrheit führt zu Unstimmigkeiten, wie Sen zeigt. So erteilt er der Marktorthodoxie eine Absage, die politische Regulierungen immer als sozialistischen Kollektivismus verunglimpft.
Nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch entwickelt Sen Maße zur Bewertung der Wohlfahrt eines Landes im internationalen Vergleich. Wohlfahrtsindikatoren, wie sie etwa die UNO nutzt, sind von Sen maßgeblich beeinflußt worden. Er konzentriert sich auch auf die „Wohlfahrt der ärmsten Länder“, wobei er die Ursachen für die Hungersnöte nicht nur in katastrophalen Versorgungsdefiziten sieht, sondern hochsensibel sozio-ökonomische Faktoren beschreibt, die die bittere Armut zementieren.
Bei der Vergabe des Nobelpreises für Ökonomie kamen in den letzten Jahren eher die neoliberalen Marktoptimisten zum Zug. Kritische Forschungen hatten nur geringe Chancen. Belastend dazu kam die Ehrung im letzten Jahr für Robert C. Merton und Myron Scholes aus den USA. Diese beiden Spezialisten für die Ermittlung des Wertes der Optionswerte von Finanzderivaten tragen als Geschäftspartner Mitverantwortung für die Fast-Pleite des wahnwitzigen Hedge-Funds „Long Term Capital Management“ in den USA, der nur durch eine Hilfsaktion von sechzehn Banken gerettet werden konnte.
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