piwik no script img

Expedition Vielfalt

Einheitsbrei oder gemischte Platte? „Globalisierung“ nimmt auch Kultur in die Pflicht. Damit geht die Tradition der europäischen Kolonialisierung zu Ende. Die Regionalkulturen können nun in einen echten Austausch treten und sich zueinander ins Verhältnis setzen  ■ Von Niels Werber

Um jemandem so richtig Angst einzujagen, muß man Globalisierungsfolgen ankündigen. Was immer auch die Globalisierung selbst sein mag, ihre Auswirkungen haben den Charakter von Drohungen. Befürchtet werden von der Globalisierung die Vernichtung der heimischen Arbeitsplätze durch die Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer, die Abwicklung des Sozialstaats durch einen friktionsfreien Kapitalismus, die Zerstörung der angestammten Kultur durch den unwiderstehlichen Imperialismus der US-amerikanischen Trias aus McDonald's, Disney und Microsoft, die Verdummung unseres Nachwuchses durch japanische Videospiele, die Überwindung unserer Grenzen durch internationale Migrationsbewegungen oder Drogenhändler und die Auslieferung geheiligter nationalstaatlicher Politikfelder an die Bürokratien der EU oder UNO. Edith Cressons Wort von den „blauen Arbeitsameisen“ oder das Gerede vom „amerikanischen Fast-food-Fraß“ bezeugen die Gefährdung des europäischen Selbstverständnisses durch barbarische Phänomene der „Vermassung“ und „Vermengung“, der sich vor allem die Regionen, etwa Bayern oder Padanien, mit starkem, folkloristisch geprägtem Selbstbewußtsein entgegenstemmen: Weißwurst und Lodenmoden gegen Hamburger und Cowboystiefel. Der globale Standortwettkampf wird offenbar längst nicht mehr allein von Nationalstaaten ausgefochten, sondern von Regionen, nicht allein ökonomisch, sondern auch kulturell.

Die allergischen, bisweilen provinzialistischen Reaktionen der Regionalkulturen auf ihre vermeintliche McDonaldisierung verweisen auf die oft unterschlagene oder vergessene Tatsache, daß Globalisierung nicht mit einer einheitlichen Globalkultur zu verwechseln ist, sondern ein Medium bezeichnet, in dem sich die Regionen vergleichen können. Der Spruch „Bayern vorn“ impliziert einen Vergleich, den der CSU- Freistaat selbstredend immer schon gewonnen zu haben glaubt. Was für die Wirtschaft gilt, in der als Global Player nur jene Unternehmen bezeichnet werden, die in der Lage sind, zwischen mehreren lokalen Standorten zu wählen, ließe sich zu der Formel verallgemeinern, Globalisierung meine ganz generell den weltweiten Vergleich der Regionen hinsichtlich ihrer Fähigkeit, den Anforderungen bestimmter sozialer Bereiche besser oder anders zu genügen als andere Regionen.

Vergleichen lassen sich die Rahmenbedingungen in unterschiedlichen Regionen nicht nur für ökonomische, sondern auch für religiöse, rechtliche, politische, medizinische oder auch ästhetische Belange. Ein Standort in Südamerika kann für Wirtschaftsunternehmen attraktiv sein wegen der geringen Lohnkosten und der geringen Steuerlast, aber unattraktiv wegen seiner unsicheren Rechtslage, der Gefährdung der Sicherheit durch Banden oder der Gesundheit durch Umweltverschmutzung. Ein Standort wie Venedig wird dagegen ohnehin nicht aufgesucht, um Produktionskapazitäten dorthin auszulagern, sondern um die Paläste, Kirchen, Museen, die Biennale oder die Filmfestspiele zu besuchen. Venedig vergleicht man daher nicht mit Bangalore, Kuala Lumpur oder Rotterdam, sondern eher mit Avignon, Salzburg oder Kassel. Globalisierung könnte entsprechend für die Kunst bedeuten, daß sie aus Regionalkulturen hervorgeht und daß sie sich weltweit vergleichen lassen muß. Der internationale Kunstzirkus und die globalen Telekommunikationsverhältnisse erzwingen geradezu, die Kunst regionaler Kulturen in ein Verhältnis zu setzen.

„Nichts Neues“, könnte man nun ausrufen, „alter Wein in neuen Schläuchen“, denn schließlich haben afrikanische Plastiken schon vor beinahe 100 Jahren die Kunst der Moderne beeinflußt und den Primitivismus aus der Taufe gehoben, koreanische Gottheiten sind in Bilder Emil Noldes eingezogen, südseeinsularischer Hausschmuck in die Arbeiten Kirchners, Masken von den Nornoinseln in die Gemälde Jawlenskys. Die Liste dieser Übernahmen ist lang, mit globalisierter Kunst hat sie jedoch nichts zu tun. Eher stehen diese Adaptionen in der Tradition der europäischen Kolonialisierung, die mit der Globalisierung ein Ende fand.

Die „Entdeckung“ und oft eben auch: die Kolonialisierung der Welt hat den europäischen Kulturbegriff tief geprägt. Die Vielzahl von Expeditionen nach Asien, Amerika und Afrika und die technische Errungenschaft des Buchdrucks erschloß exklusiv den Europäern ein enormes Feld für Vergleiche. Alles, was aus der Ferne nach Hause berichtet wurde, konnte unter dem Aspekt der Kultur miteinander verglichen werden. Wie und was man ißt, wie Rangunterschiede artikuliert werden, woraus die Kleidung besteht, die Weisen der Rechtsprechung und Arten des Schmucks wurden in Grönland oder Mexiko, China oder Indien, Schwarzafrika oder Polynesien beobachtet und unter dem Aspekt der Kultur analysiert. Natürlich konnten die „Entdeckten“ auch sich selbst in ein Verhältnis zu ihren „Entdeckern“ setzen, doch verfügten die Eingeborenen nie über jenen privilegierten Standpunkt Europas, nicht nur die eigene Kultur mit der fremden Kultur vergleichen zu können, sondern Regionalkulturen des ganzen Erdballs zum Vergleich heranzuziehen.

Kulturelle Unterschiede konnten deshalb nur in Europa schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf klimatische oder geographische Differenzen zurückgeführt werden, während „entdeckte“ Kulturen wie etwa die Azteken in ihren Eroberern nur Götter zu sehen vermochten, da in ihrem Weltbild für Menschen außerhalb der eigenen Kultur kein Platz vorgesehen war: Man war Aztek, zu versklavender Barbar oder Gott. Nur in der Perspektive Europas konnten Unterschiede auf Kultur zurückgeführt werden statt auf Natürliches oder Übernatürliches. Die Europäer wußten, daß sie überall auf Menschen treffen würden, deren „Lebensweise“, wie Francis Bacon 1620 im „Organon“ schreibt, nur deshalb eine andere ist, weil die „Lebenszustände“ vor Ort sich von den europäischen so kraß unterscheiden.

Die Importe außereuropäischer Formen in die Kunst der Moderne gehören noch in diesen Kolonialstil der Beobachtung, weil die Regionalkulturen, denen die Anregungen zu verdanken waren, nicht zurückschauen konnten: Es gibt daher zwar den „Primitivismus“, aber keine Rezeption der europäischen Kunstgeschichte, die in die Maskenfabrikation der Nornoinseln oder die Fetischfertigung Schwarzafrikas einfließen würde. Europa beobachtet und vergleicht, der Rest der Welt wird beobachtet und verglichen. Die skizzierte Sonderstellung Europas, dieses Produkt aus einer funktionalen Sozialordnung, Jahrhunderte währender Expansion und überragender Speicher- und Verkehrstechniken, ist aber unterdessen Geschichte geworden. Viele Regionen des Erdballs werden nicht nur von Europa aus verglichen, sondern sind heutzutage in der Lage, selbst Vergleiche anzustellen – und wenn nicht in einem Feldversuch vor Ort, wie etwa in den von Umberto Eco notierten wunderbaren ethnologischen Betrachtungen einer tasmanischen Forscherin über Bologna, dann doch anhand der Massenmedien oder des Internets. Die weltumspannenden Telekommunikationsmedien entfalten den Regionalkulturen einen Vergleichsraum, zu dem Europa noch gehören kann, aber nicht muß.

Vergleichen kann man nicht nur, wie üblich, Lohnnebenkosten oder Maschinenlaufzeiten, sondern auch Kunst und Literatur. Von globalisierter Kunst ist also nicht dann zu sprechen, wenn die typisch europäische Regionalkultur in alle Welt exportiert wird („McDonaldisierung“); Globalisierung meint vielmehr im Unterschied zur Epoche des Kolonialstils, daß erstmals weltweit ein Vergleichsmedium zur Verfügung steht, in demn die Kunst aller Regionalkulturen in einen Austausch treten kann. Globalisierung der Kunst heißt die neue Möglichkeit der „zweiten“ und „dritten“ Welt, sich nicht länger an den Standards der europäischen Moderne messen oder vom euro-amerikanischen Kunstmarkt „entdecken“ lassen zu müssen, sondern ihre Werke, Stile, Formen, Materialien weltweit vergleichen zu können. Die Globalisierung macht so hybride Werke möglich, die aus der Konfrontation der Regionalkulturen hervorgehen und der europäischen Kunst nicht mehr zu verdanken haben müssen als etwa der mexikanischen, ägyptischen oder koreanischen. Es geht nun ohne Europa. Die Zeit, in der wie jüngst in der FAZ (17.10. 1998) getitelt wird „Wer Paris erobert, regiert die Weltkunst“, wäre also vorbei. Eine Epoche könnte beginnen, in der es Weltkunst gäbe, die sich zur Tradition der europäischen Moderne in gar kein Verhältnis setzen ließe und dennoch Kunst wäre.

Auf allen relevanten Feldern der Gesellschaft ließ sich in den letzten Jahren studieren, wie schwierig es für Europa ist, sich mit der Globalisierung abzufinden und den eigenen Stil als Regionalstil zu relativieren – im Verhältnis etwa zu anderen Weltreligionen oder zu anderen Formen des Wirtschaftens und Herrschens. Es wäre daher nicht verwunderlich, daß die Globalisierungfolge für die Kunst der europäischen Moderne den Rang einer narzißtischen Kränkung erhalten könnte, da sie einsehen müßte, nicht die Weltkunst zu sein, die man von Paris aus erobert, sondern nur ein Regionalstil von vielen. Der Kunst, von deren Ende nur in Europa ständig geredet wird, wäre mit dieser Kränkung gewiß gedient.

Niels Werber wird seine Überlegungen bei der Tagung „Globalisierte Kunst? Zur Kommunikation von ,Kunst‘ und ,Literatur‘ in unterschiedlichen Gesellschaftstypen“ an der Ruhr-Universität Bochum, am 30. und 31.10. vortragen. Weitere Informationen zum Thema und zur Tagung im Internet unter http://134.147.181.82/kultur.html

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen