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Produkte höherer Klugkeit

■ Eine Woche lang verkaufen die Werkstätten des Martinshofs im Rathaus Notenständer, Luxusfahrräder und winzige, schmunzelnde Jesuskinder

„Do it now“ befiehlt ein knallbuntes Graffiti auf einem Trafokasten an der Haltestelle „Georg-Gries-Straße“ der Buslinie 25. Georg Gries hat es getan. Sein „Now“ war das Jahr 1953. Eigentlich aber waren es die Mütter – wie immer. Etwa zwanzig Mütter brachten ihre behinderten Kinder zu Gries, dem späteren Mitbegründer der Bremer „Lebenshilfe“, mit dem klaren Auftrag: „Beschäftige DIE mal!“ Dieser Satz war die Geburtsstunde der ersten großen Behindertenwerkstatt Deutschlands. Gries staunte nicht schlecht, wie kollegial und diszipliniert seine neuen Arbeitnehmer waren. Drei Jahrzehnte später wurde dem Gründervater dann eine Bushaltestelle inklusive Straße gewidmet. Die liegen in der Vahr in unwirtlicher Stadtlandschaft irgendwo zwischen Jettankstelle und Interspardiscount. 1984 wurde hier die größte von 26 Werkstätten errichtet. Dort arbeiten 250 von insgesamt 1.420 geistig, psychisch oder körperlich herausgeforderten Menschen.

Ralf werkelt zur Zeit in der Holzwerkstatt. Mit wahrer Engelsgeduld streift er die noch feuchten Leimreste von einer höchst eigentümlichen Schublade ab. Sie hat einen Klappdeckel und gehört zu einem gigantischen Regalsystem mit Hunderten von Dokumenten-Boxen. Das Bremer Katasteramt hat es in Auftrag gegeben zur Verwahrung von Grundbucheintragungen etc. Ralfs Kollege gruppiert Stäbchen zu einem Holzkleid für die edlen Weine: eine Bestellung des Ratskellers. Für den größten Auftraggeber Daimler Chrysler liegen seltsame Paddel in Stapeln bereit. Müssen wir uns nach Ökosmart demnächst paddelnd im Handbetrieb durch die Straßen fortbewegen? Natürlich nicht: Mit den Schein-Paddeln werden die Autotüren in die Rohkarosserie hineingewuchtet – Sachen gibt's. Sind in Behörden und Büros Möbel oder Geräte jenseits der Stangenanfertigung gefragt, ist der Martinshof eine gute Adresse. Mit 25 Werksgruppenleitern – Schreinern, Maschinenbauern etc. – kann jedermann direkt vor Ort die Modalitäten irgendwelcher Sonderanfertigungen aushandeln.

Auf dem alljährlichen Weihnachtsmarkt werden natürlich keine trügerischen Paddel verkauft, sondern zum Beispiel handgeknuddelte Tonkrippen. Da gibt es Heilige Dreikönige, die schwer an ihrem Halsschmuck tragen. Und das Jesuskind grinst dazu, mal lieblich, mal schelmisch, mal hinterfotzig: Jede Figur ist ein Unikat. Beliebter als das Christkind ist seit zwei Jahren der berühmte Martinhof-Frosch. Faul glotzt er aus seinen Scheinwerferaugen und manchmal trägt er eine Krone.

„Ton ist ein schwieriges, faszinierendes Ding“, meint die Keramikmeisterin, „wir alle wachsen an dieser Herausforderung und so manche hier scheinen regelrecht über ihren Schatten zu springen.“ „Wenn du den Ton überspannst, bricht das Werkstück beim Brennen“, meint einer, der Milchbecher anfertigt. „Sieben Bewegungen führt er aus während des Brennens“, ergänzt sein Kollege, während er geduldig Tonwulst auf Tonwulst türmt. „Es wird wohl eine Schale werden.“ Vielleicht arbeitet er sich aber auch hoch zu einer Vasenform. Die Belegschaft hat Gestaltungsfreiheit – und nutzt sie auch.

Auf dem Weihnachtsmarkt gibt es Tassen, Teekannen, Textil- und Lederarbeiten, Kerzenständer, Service, Besen, Bürsten, Notenständer, Stehpulte, Weihnachtsgestecke, Holzsterne, Uhren, Büromaterial, Fahrräder, alles. Noch wenige Tage vor dem Markt sitzt ein Schreiner an einer Bandsäge. Aus Holz bringt er Esel zur Welt, Stück für Stück für unzählbare Sets Bremer Staatmusikanten. Mit Millimetergenauigkeit frißt sich die Säge der Konturlinie entlang vorwärts. Für eine genaue Halskante muß das Holzstück gedreht und gewendet werden. Ablenkung wäre da tödlich. Zumindest für den Esel. Die Leute hier haben eine erstaunliche Arbeitsethik, erzählt Hannelore Stöver, Leiterin der Werkstatt Bremen, zu der der Martinshof gehört. Die Keramiker sind stolz auf ihre Produkte, und die Mercedeszulieferer freuen sich schon darauf, in den nächsten Tagen Mercedes-Buttons für ihre Arbeitskleidung zu bekommen, ergänzt Martinshofchef Rolf Poppe. Die gute Laune, meint Stöver, ist teils habituell, teils Ergebnis von höherer Klugheit. Hier ist man kaum infiziert von der ebenso weitverbreieten wie nutzlosen Angst vor dem Alter, der Zukunft, den Mitmenschen.

„Wenn aber Gäste ins Schwärmen kommen über die fröhlichen, zufriedenen Gesichter in den Werkshallen, dann relativiere ich. Ich kenne so manche latente Traurigkeit hinter einem Lächeln.“ Auch Menschen mit Down-Syndrom haben ihre ernsthaften Seiten, weiß Stöver und erzählt von einem jungen Mann, der regelmäßig in Oper und Klassikkonzerte geht. Und Poppe erinnert sich an einen Borderliner, der sämtliche Beethovensonaten auswendig rauf und runter spielen konnte.

Die Werkstätten waren einst dem Sozialamt zugeordnet, dann bildeten sie ein eigenes Miniamt, ehe sie 1983 zum sogenannten „Eigenbetrieb“ wurden, jener Rechtsform, vor der zur Zeit Volkshochschule, Stadtbibliothek und andere Kultureinrichtungen bibbern. „Uns hat's nur Vorteile gebracht“, meint Poppe, „im Unterschied zu mancher Behörde, können wir kaputte Fenster erneuern.“ Pures Understatement: Der Maschinenpark der Schreinerei soll allererste Sahne sein.

Seit 1979, der Hochzeit der Psychatriereform, stießen etwa 350 sogenannte „psychisch Behinderte“ zur Werkstättencrew dazu. „Bei uns arbeiteten schon Architekten, Diplomingenieure oder ehemalige Triebtäter“, meint Poppe. Diese Menschen mit Neurosen, Psychosen oder Borderlinesymptomatik sind logischerweise zunächst oft gar nicht so erbaut, wenn irgendein Mensch vom Arbeitsamt meint: Nun ja, für den ersten Arbeitsmarkt seien Sie ja wohl zur Zeit ungeeignet; klopfen Sie doch bitteschön mal beim Martinshof an. 2,5 SozialarbeiterInnen, 0,75 Anteile einer ganzen Psychologin, ein kompletter Ergotherapeut und ein weißer Meditationsraum mit Wasserbett helfen diesen Menschen bei der Gewöhnung an die neue Tätigkeit. Viel ist das nicht. Die Stadt zahlt diese Sozialkosten, ein Arbeitstraining für die Neuen und Gebäudekosten. Alle Produktionskosten, also Maschinen, Material und Handwerker, müssen selbst erwirtschaftet werden. Da bleibt nicht mehr als ein Monatsgehalt von 330 Mark. Immerhin gibt es ab 20 Jahren Werkszugehörigkeit circa 1.000 Mark Erwerbsunfähigkeitsrente durch den Bund. Diese unerwartete Großherzigkeit klärt Stöver schnell auf: Das Gesetz wurde verabschiedet in Zeiten, als man Herausgeforderten eine geringe Lebenszeit prognostizierte. Doch 250 Werkstättler bekommen mittlerweile diese verdiente Rente. Und die 40jährigen Jubiläen häufen sich. Noch immer steigt die Zahl der Belegschaft, wenn auch dezent. Der Grund dafür ist ein Brutaler: die Euthanasiepolitik der Nazis. Erst heute, 50 Jahre danach, ist die Alterspyramide einigermaßen komplettiert. B.Kern

Martinshof-Produkte sind billig. Ein gutes Gewissen hat sich also nicht verdient, wer einkauft in der Rathaushalle bis 6.12., 11-19h.

Eröffnung: 28.11.,11h mit dem Bläserensemble „Blechbüxen“. Eine Ausstellung dokumentiert 20 Jahre Arbeit mit DaimlerChrysler.

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