■ Koalitionsverträge sind nicht alles
: Atomausstieg könnte ohne Druck der Bürger-Inis ins Stocken geraten

Das Feldgeschrei der Stromwirtschaft wird heftiger, und demnach haben die Bemühungen der neuerdings in Bonn Regierenden um den Ausstieg aus der Atomkraft nun tatsächlich begonnen. „Umfassend und unumkehrbar“ wollen ja SPD und Grüne den Ausstieg „gesetzlich regeln“ – so haben sie es in ihrem Koalitionsvertrag versprochen. Als ersten Schritt auf diesem Wege hatte Bundesumweltminister Jürgen Trittin eigentlich vor, schon kommenden Dienstag den Bonner Regierungsfraktionen einen Entwurf zur Änderung des Atomgesetzes zuzuleiten. Punktgenau sollte diese den Konsensgesprächen vorgeschaltete Gesetzesänderung der Koalitionsvereinbarung entsprechen – etwa schon mal die Förderung der Atomkraftnutzung streichen, die bisher Zweck des Gesetzes ist. Zudem sollte da eine Sicherheitsüberprüfung aller AKWs vorgeschrieben, die Versicherungssumme für Unfälle auf fünf Milliarden verzehnfacht und die Wiederaufarbeitung verboten werden.

Koalitionsverträge sind nicht alles Atomausstieg könnte ohne Druck der Bürger-Inis ins Stocken geraten

Doch allem Anschein nach kann Trittin seinen Zeitplan nicht mehr einhalten. Die AKW-Betreiber haben ihn bisher nämlich nicht in die Verträge schauen lassen, die sie mit den Wiederaufarbeitungsanlagen in Großbritannien und Frankreich abgeschlossen haben. Nun muß sich Trittin über die Länder Einblick in diese Verträge verschaffen. Das zeigt einmal mehr, daß es einen schiedlich-friedlichen Konsensweg zum Ausstieg nicht geben wird, sondern daß die Stromwirtschaft in den Ausstiegsgesprächen mit härtesten Bandagen um ihre Atommeiler und dabei vor allem ums Geld kämpfen wird.

Hat nicht Wilhelm Simson, Vorstandsvorsitzender des Bayernwerk-Eigentümers Viag, kürzlich behauptet, seine Atomkraftwerke hätten eine Lebenserwartung von 40 bis 60 Jahren, wobei man die Stillstandszeiten noch draufschlagen müsse. Die normale Betriebsdauer liegt bislang allerdings bei um die 25 Jahre. Mit ihren Phantasiezahlen will die Stromwirtschaft sich den Ausstieg selbst dann noch mit Entschädigungszahlungen versüßen lassen, wenn die Regierung sich auf ein ganz normales Auslaufenlassen der Meiler einließe.

Auch die Aufregung um die paar atomkritischen Passagen aus einem kürzlich bekanntgewordenen Vorentwurf zu Trittins erster Atomgesetznovelle spricht Bände. Weil einzelne Stromversorger murrten und anonym, ohne sich zu outen, mit einem Boykott der Energiekonsensgespräche drohten, erklärte das Bundesumweltministerium den Vorentwurf sogleich für nichtexistent. So empfindlich darf der Bundesumweltminister künftig nicht reagieren, wenn er tatsächlich den Ausstieg unumkehrbar machen will. Dazu versteht die Stromwirtschaft das PR-Geschäft zu gut. Mehr Standhaftigkeit ist da nötig, sonst endet der Ausstieg wie die unselige Nichtreform der 620-Mark-Jobs schon nach einigen Negativ- Schlagzeilen der Bild-Zeitung.

Wie kläglich die Bemühungen im schlimmsten Falle enden könnten, zeigt ein Blick in die Historie Niedersachsens, wo ja 1990 ein Ministerpräsident Gerhard Schröder und auf seiten der Grünen ein Bundesratsminister Jürgen Trittin sich schon einmal per Koalitionsvertrag zum Atomausstieg verpflichtet hatten. Seinerzeit sollten alle vier AKWs des Landes nach und nach abgeschaltet werden, als erstes binnen Jahresfrist das in Stade, das bekanntlich wie die übrigen drei Meiler noch heute am Netz ist. Auch das Ende des Planfeststellungsverfahrens Schacht Konrad und der Endlagererkundung in Gorleben hatten Schröder und Trittin 1990 per Koalitionsvertrag schon einmal scheinbar besiegelt. Natürlich hatten solche Ausstiegsbemühungen auf Länderebene immer auch die Bundesaufsicht, die CDU-geführte Bundesregierung, zum Gegner. Aber in diesen ersten Wochen nach dem Regierungswechsel in Bonn erweist sich nun, daß sich die großen Energieversorger auch alleine wehren können.

Welches Schicksal der nun von Rot-Grün vereinbarte „unumkehrbare Ausstieg“ erleiden wird, hängt vor allem vom öffentlichen Klima ab, davon, ob sich die außerparlamentarische Anti-AKW-Bewegung gewohnt phantasievoll zu Wort meldet und die PR-Bemühungen der Stromkonzerne konterkariert. Daß Demonstrationen zuweilen mehr bewirken als Koalitionsverträge, hat sich schon nach der Bildung der rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen gezeigt. Ausgerechnet die baldige Inbetriebnahme des bis heute umkämpften Gorlebener Castor-Lagers hatte Rot-Grün damals im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Jürgen Voges