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Schlafes Bruder – lebensmüde

■ Die große Müdigkeit des 20. Jahrhunderts: Der jüdische Schriftsteller Paul Kornfeld und sein Roman „Blanche oder Das Atelier im Garten“ – über den Versuch, sich einfach wegzuschlafen

1902 waren die Experimente abgeschlossen: Das erste synthetische Barbiturat kam unter dem Namen Veronal in den Handel. Ein paar Jahre später schrieb Georg Trakl: „Ich habe jetzt zwei Tage und Nächte geschlafen und habe heute noch eine recht arge Veronalvergiftung. In meiner Wirrnis weiß ich nun gar nicht mehr, wie ich noch leben soll.“ Das nervöse 20. Jahrhundert hatte begonnen: Zeit, sich zu betäuben.

In Paul Kornfelds Roman „Blanche oder Das Atelier im Garten“ geht es um so ein Röhrchen Schlaftabletten. In einem unheimlichen Reigen wandert das Gift durch die besseren Kreise einer deutschen Großstadt in den 20er Jahren: Zwischen verschwätzten Nachmittagen und rauschenden Abendeinladungen macht sich eine große Müdigkeit breit. Da ist die „schwermütig schöne“ Carola, die ihre Seele bisher nur notdürftig mit den Düften teurer Parfüms zusammengehalten hat. Die gefrustete Gisela, die sich ihr trotziges Emanzenköpfchen immer wieder am männlichen Hochmut stößt. Und zuletzt Blanche: Blanche Riedinger, 28 Jahre alt, von Beruf Tochter, die sich oft tagelang in ein kleines Haus in einem verwilderten Garten zurückzieht.

Eigentlich braucht Blanche kein Veronal. Sie schlüpft einfach in ihr mit schicken Möbeln vollgerumpeltes Häuschen. „Nachdem sie die Malutensilien weggeräumt hatte, schlenderte sie durch die offene Tür ins Nebenzimmer, in jenes kleine Kabinett, das, mit dicken, weichem Velours ausgelegt... Blanche ließ sich auf der Couch nieder, stützte den Ellenbogen auf und legte den Kopf in die offene Hand, so daß sie halb saß und halb lag. Sie verharrte in dieser Stellung, und während sie so unbeweglich blieb, wurde es immer stiller im Haus. Die Dinge schienen zu schlafen, die Zeit ging auf Zehenspitzen vorbei.“ Doch dann soll ihr das Atelier genommen werden. Und plötzlich findet Blanche sich unbehaust in der hektischen Gegenwart wieder, in der Tasche etwas Veronal. Wenn sie doch nur weiterschlafen könnte...

„Blanche oder Das Atelier im Garten“ war das letzte Werk des jüdischen Schriftstellers Paul Kornfeld. Jetzt gibt es den Roman in einer Neuausgabe zu lesen. Über den Autor weiß man allerdings nicht viel. Ein paar Briefe sind erhalten, zwei Dissertationen gibt es über ihn und den einen oder anderen Zeitungsartikel, Rubrik „Vergessene Bücher“. Vielleicht ändert sich das noch: Im Frühjahr soll bei Schöffling & Co. ein Band über Leben und Werk Kornfelds erscheinen, zusammen mit einer frühen Novelle.

Kornfeld wird 1889 in Prag geboren. Sein Vater ist – wie Hermann Kafka – ein gebildeter jüdischer Kaufmann. Kornfeld bewegt sich bald in den literarischen Kreisen der Stadt: Er kennt Franz Werfel, Willy Haas und auch den älteren Max Brod. 1914 zieht er nach Deutschland. Er veröffentlicht expressionistische Theaterstücke, die dem Zeitgeist wohl immer ein bißchen hinterherhinken. Aber er hat Erfolg, und 1918 verfaßt er sogar eine Art Manifest: „Der beseelte und der psychologische Mensch“. In „Blanche“ soll später der alte Notar Feding noch einmal die Idee dieser Schrift vertreten: von einer beseelten Existenz, die man gegen die psychologisierende Geschwätzigkeit setzen müßte.

Kornfeld heiratet die Schauspielerin Fritta Brod. Eines der wenigen überlieferten Details aus Kornfelds Leben ist seine Besessenheit von Blumen: Aus der gemeinsamen Frankfurter Wohnung machte er eine Art Gewächshaus, was zu Irritationen in der Ehe führte – und zu der Figur des Akademikers Ruge, der in „Blanche“ als besorgter Ehemann das Schlafzimmer der lebensverdrossenen Carola mit Flieder und Rosen ausstaffiert, um ihre Schwermut im Blütenduft zu ersticken. Im Prager Exil, wo Kornfeld in den 30er Jahren den Roman schreibt, ist für Blumen kein Platz mehr. Dafür schreibt er dann in herbstlich welkenden, jugendstilverschnörkelten Sätzen: „Hier hatte ein Herz die Besinnung verloren unter seiner Leidenschaft, den anderen zu erfreuen und noch einmal und wieder und wieder zu erfreuen“, heißt es über Ruge.

1926 die Scheidung, und ein Jahr später wird Kornfeld Dramaturg in Darmstadt. 1928 geht er nach Berlin. Für die Nazis, die als politische Kraft immer stärker werden, hat der unpolitische Kornfeld nur Spott über, und im Februar 1932 wickelt er sich für das Faschingsfest des Rowohlt Verlags in eine Hakenkreuzflagge. Irgendwann muß er es dann doch begriffen haben: Als er im Winter des gleichen Jahres seinen Vater besucht, kommt er nicht wieder nach Deutschland zurück. Er bleibt in Prag und schreibt „Blanche“, in dem der Nationalsozialismus mit keinem Wort erwähnt wird.

Statt dessen stopfte Kornfeld seinen Roman mit schlaftrunkenen Sätzen und endlosen Beschreibungen von Interieurs voll. Das ist sehr anstrengend. Aber man kann in „Blanche“ etwas von der großen, selbstmörderischen Müdigkeit spüren, mit der das 20. Jahrhundert sich damals schlafen legte. Und man kann etwas von Kornfelds eigener Müdigkeit erahnen. Der Schriftsteller wußte, daß er in Prag bedroht war, und trotzdem schlug er 1940 die Möglichkeit aus, mit Verwandten nach England zu fliehen. Er schrieb einfach weiter und hüllte sich in Manuskriptpapier, wie Blanche in die Traumwelt ihres Gartenhauses: lebensmüde. Bis die Nazis ihn dann verhafteten. Im Januar 1942 stirbt Paul Kornfeld im Ghetto von Lodz. Fünfzehn Jahre später erscheint sein Roman zum ersten Mal in Deutschland. Kolja Mensing

Paul Kornfeld: „Blanche oder Das Atelier im Garten“. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 1998, 672 Seiten, 48DM

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