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Das Gift aus dem Beißring

■ Die Gefahr kommt aus Plastik: PVC mit dem Weichmacher Phthalat bedroht die Gesundheit von Kleinkindern. Doch die EU-Kommission konnte sich bis heute nicht zu einem Verbot durchringen. Und das grüne Bonner Umweltministerium lehnt einen nationalen Alleingang ab.

Die EU-Kommission hält sich einen eigenen wissenschaftlichen Ausschuß für die Bewertung von Giftstoffen im täglichen Leben – aber sie traut ihm offenbar nicht über den Weg. In einem Bericht vom 27. November hat der wissenschaftliche Ausschuß mitgeteilt, daß die Konzentration von giftigen Phthalaten in einigen Babyartikeln „Anlaß zur Besorgnis“ gebe. Nach den Gebräuchen der traditionell vorsichtigen Wissenschaftler gilt so etwas als eine deutliche Warnung vor möglichen Gesundheitsschäden. Doch die EU- Kommission zögert, die Produkte zu verbieten.

Schon im Juli wollte die für Verbraucherschutz zuständige EU- Kommissarin Emma Bonino die verdächtigen Babyartikel aus dem Verkehr ziehen lassen. Dabei ging es um Beißringe, Babyrasseln und rund 10 andere Artikel aus PVC, die von Säuglingen in den Mund genommen werden. Denn im Speichel lösen sich die als Weichmacher beigefügten Phthalate aus dem PVC, die Kinder nuckeln sich um ihre Gesundheit.

Es ist wissenschaftlich unbestritten, daß Phthalate in entsprechenden Mengen Leber und Nieren schädigen und Hodenkrebs auslösen können. Umstritten ist allerdings noch, wie groß die Mengen sind, die beim normalen Umgang mit PVC in den Körper des Säuglings gelangen. Die Spielzeugindustrie argumentierte, daß ein Kleinkind zehn Stunden am Tag auf dem Beißring kauen müßte, um Schaden zu nehmen.

Die Mehrheit der 20 EU-Kommissare lehnte das Verbot deshalb im Juli ab. Die wissenschaftliche Basis reiche nicht aus, erst müsse eindeutig erforscht sein, wie viele Stunden am Tag Kleinkinder ihr Spielzeug in den Mund nehmen und wie viele Phthalate sie dabei verschlucken. Die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten wurden deshalb aufgefordert, solche Studien in Auftrag zu geben und gegebenenfalls vorbeugende Maßnahmen zu treffen.

Inzwischen ist das Chaos perfekt, das die EU-Kommission als Wettbewerbs- und Verbraucherschutzbehörde eigentlich vermeiden sollte. In jedem Land gilt etwas anderes, verunsicherte Eltern wissen nicht mehr, woran sie sich halten sollen. Dänemark hat Phthalate im Babyspielzeug bereits verboten, was die frühere Bundesregierung zum Anlaß nahm, in Brüssel Beschwerde einzureichen. Das dänische Verbot sei ein unerlaubtes Handelshindernis im Binnenmarkt.

Österreich will die gefährlichen Artikel schon ab dem 1. Januar verbieten, Finnland und Schweden haben ähnliches angekündigt, und die Niederländer wollen spätestens im Februar nachziehen, wenn die EU-Kommission nicht endlich reagiert.

Wien und Den Haag stützen sich dabei auf Studien, die nicht nur die Gefährlichkeit von Babyspielzeug belegen, sondern von Spielzeug überhaupt. Beobachtungen hätten gezeigt, daß gerade Säuglinge alles in den Mund nehmen, was nicht dafür bestimmt ist, also auch Badeenten, Plastikautos und die Spielzeugpuppen der älteren Geschwister.

Die niederländische Studie betont zudem, daß bisher unterschätzt wurde, wieviel Phthalate die Kinder schon vor dem Dauernuckeln aufnehmen. PVC-Fußböden dampfen Phthalate aus, in Fertigmilchpackungen und selbst in der Muttermilch wurden Mengen gefunden, die zwar weit unterhalb der Grenzwerte liegen, sich aber addieren. Es gebe deshalb viele Unsicherheitsfaktoren, heißt es in der Studie, die eine genaue Einschätzung schwierig machten, wieviel Phthalate aus dem Spielzeug die Kleinkindern noch vertragen könnten.

Die großen Hersteller haben mit Rücksicht auf ihren Ruf inzwischen in einer Selbstverpflichtung erklärt, daß sie bei Babyspielzeug Phthalate durch ungefährliche Weichmacher ersetzen. Auch US- Firmen wie Toys 'R' Us betonen, sie hätten keine bedenklichen Produkte mehr in den europäischen Filialen. In der Bundesrepublik Deutschland etwa seien solche Produkte nicht mehr im Handel. Doch die Selbstverpflichtung hat Lücken. Zum einen bezieht sie sich nur auf Artikel, die ausdrücklich für Säuglinge bestimmt sind, zum anderen ist der Spielzeugmarkt überschwemmt von chinesischen und anderen Herstellern, die sich keine Beschränkungen auferlegen wollen.

Beamte in der EU-Kommission räumen ein, daß sie den Überblick verloren haben: „Wir wissen nicht, was wirklich auf dem Markt ist.“ Amtliche Kontollen seine nur in den Ländern möglich, in denen ein Produkt ausdrücklich verboten ist. Ob die EU-Kommission sich zu einem EU-weiten Bann durchringt, ist noch offen. Ein Gesetz, dem die Mehrheit der EU-Regierungen zustimmen müßte, würde zwei bis drei Jahre brauchen, bis es in Kraft tritt. Doch die EU-Kommission könnte ein sofortiges Verbot als Notmaßnahme verhängen, das nach drei Monaten überprüft werden müßte. „Die Kommission muß jetzt handeln“, verlangt die Europaabgeordnete Hiltrud Breyer (Grüne/Bündnis 90) gegenüber der taz. „Sie hat jetzt keine Ausreden mehr.“ Doch auf der turnusgemäßen Sitzung der EU-Kommission am heutigen Mittwoch taucht das Phthalate-Problem überhaupt nicht auf.

Greenpeace hat gestern in Brüssel eine Reihe von Nikoläusen in die EU-Kommission marschieren lassen, um auf die Dringlichkeit vor Weihnachten hinzuweisen. Doch in der EU-Behörde dominieren offensichtlich die Industrieschützer. Entschiedenster Gegner des Verbots sei nicht mehr die Spielzeugindustrie, verraten EU- Beamte, der Druck komme vor allem aus der Chemie- und Erdölbranche. Denn die fürchte, daß der amtliche Hinweis auf die Gefährlichkeit der Phthalate große Teile ihrer Produktpalette ins Zwielicht bringen könnte. PVC, aus Erdöl gewonnen, ist einer der am weitesten verbreiteten Kunststoffe der Welt. Ohne Phthalate aber ist PVC fast so hart wie Kruppstahl und für Verpackungen, Joghurtbecher oder Bodenbeläge somit unbrauchbar.

Wenn die kleinen Weichmacher in Babyartikeln verboten würden, dürfte als nächstes die Frage auftauchen, wie die Phthalate eigentlich in die Muttermilch kommen. Alois Berger, Brüssel

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