: Eine Debatte ohne Schlußstrich
■ Ignatz Bubis und Martin Walser haben ihren Streit um das Gedenken an den Holocaust nicht beigelegt. Aber Mißverständnisse sind ausgeräumt. Doch der Streit muß und wird weitergehen. Jetzt ist die Politik gefordert, Stellung zu beziehen: Was heißt in Deutschland heute Erinnerung?
Das Treffen zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis war wichtig und gut. Vor allem, weil es die angespannte Beziehung zwischen diesen beiden Männern, wenn schon nicht „normalisierte“, so doch auf einer persönlichen Ebene in Ordnung gebracht hat. Die „Entpersonalisierung“ dieser Auseinandersetzung heißt jedoch noch lange nicht, daß in dieser Debatte ein Schlußstrich gezogen wurde. Die Kakophonie der Musik ist etwas gemäßigt worden, ihr Grundton jedoch bleibt erhalten.
Es bleibt offensichtlich, daß die substantiellen Differenzen zwischen beiden Männern mindestens so bestechend sind wie ihre manifeste Versöhnung. Walser besteht weiter darauf, daß er als Schriftsteller und Bürger sagen darf, was er will. Das ist im Sinne von Demokratie und Redefreiheit völlig richtig. Er nahm kein einziges Wort seiner Frankfurter Rede zurück.
Hier machte Ignatz Bubis die weit größere Konzession: Er hat seine Beschuldigung, Walsers Rede sei „geistige Brandstiftung“ gewesen, öffentlich zurückgenommen. Aber das war auch schon alles. Bubis besteht wiederum richtigerweise darauf, daß die Konsequenzen von Walsers ursprünglichen Worten in dem privaten und öffentlichen Diskurs der deutschen Gesellschaft viel weitreichender waren, als es Walser ursprünglich annahm – was ich ihm keine Sekunde lang glaube. Was heißt das für die Zukunft?
Zum ersten bedeutet dieser Waffenstillstand oder bestenfalls „kalte Frieden“ dieser beiden Männer keineswegs ein Ende der Debatte. Die wird heftig weitergehen, da latente Probleme oft viel schädlicher sind als manifest ausgetragene. Und eine Streitkultur ist nur zu begrüßen. Aber worum wird gestritten?
Um die deutsche Normalität. Wie Bubis nicht müde wird zu betonen und wo ihm die vergleichende Politikwissenschaft mit großer Mehrheit recht geben würde, kann man sich kaum ein „normaleres“ Land im heutigen Europa und der Welt vorstellen als die Bundesrepublik Deutschland seit dem 3. Oktober 1990. Jetzt, da die Deutschen am 27. September 1998 zum ersten Mal eine Regierung durch eine Wahl auswechselten, ist diese Normalität noch um eine zusätzliche Dimension verstärkt worden. Aber wie wir als Politikwissenschaftler auch wissen, reichen objektive Fakten oft nicht aus, um einen Tatbestand zu beschreiben. Da spielen schwer quantifizierbare und empirisch belegbare subjektive Gefühle eine mindestens ebenso wichtige Rolle.
Zur Überraschung vieler ausländischer Beobachter, zu denen ich mich in diesem Fall nicht zähle, fühlen sich viele Deutsche – die Unmöglichkeit, eine Größenordnung anzugeben, spiegelt die Brisanz dieser Subjektivität wider – aus einem einzigen Grund „abnormal“ oder „unnormal“: dem der Shoah. Und wenn man schon so viel Zeit und Energie aufbringt, um über seine „Normalität“ zu diskutieren, dann ist dies schon ipso facto das beste Zeichen dafür, daß die Dinge eben nicht ganz „normal“ sind. „Normal“ für Deutsche kann dann nur heißen, den Holocaust in irgendeiner Form zu „normalisieren“: ihn zu vergessen, zu verschweigen, zu leugnen, zu relativieren, zu gedenken, zu beschwören, um nur einige von vielen Möglichkeiten zu nennen. Bei all den Möglichkeiten handelt es sich um eine Institutionalisierung dieses kollektiven Gedächtnisses, das heißt um deren Ritualisierung. Um diesen Punkt kommt nicht einmal Herr Walser herum, auch wenn er zwanzigmal von seinem Fernsehapparat bei Sendungen über den Holocaust wegschaut oder das Gerät abschaltet. Für Walser ist offenbar das Wegschauen oder das Abschalten zur Ritualisierung geworden. Ein Entkommen ist es aber noch lange nicht, auch wenn es Walser so gerne hätte. Und auch für die Tausenden, wahrscheinlich Millionen neuen Walser-Freunde, denen der Schriftsteller aus der Seele gesprochen hat und für die er endlich den heißersehnten Befreiungsschlag zu liefern glaubte, wird der Kampf um die Gestaltung der Normalität weitergehen.
Der Disput wird sich also um die Form und Substanz dieser Institutionalisierung und Ritualisierung drehen. Wie wird sie aussehen, wer wird sie gestalten?
Hier wird sich früher oder später auch die politische Klasse dieses Landes, insbesondere die neue Regierung, nicht aus dem Konflikt heraushalten können. Obwohl es für jeden auch nur gering Interessierten deutlich geworden ist, daß für einige Mitglieder dieser Regierung, allen voran Bundeskanzler Schröder, die Shoah nur unter ferner liefen, wenn überhaupt, auf dem Radarschirm auftaucht, kann sie sich des Disputs nicht entziehen. Denn dieser Streit tangiert immanent Ausdrucksformen und Ausübung deutscher Macht in Europa und der Welt.
Es ist schlicht unwahr, wenn behauptet wird, daß jede Handlung des heutigen Deutschland im Ausland durch die Prismen der Shoah begutachtet wird. Etwaige Ressentiments gegenüber Deutschland haben viel mehr mit der Größe und Stärke der heutigen Republik zu tun als mit dem Holocaust. Die Deutschen müssen sich darüber klarwerden, was Amerikaner schon lange wissen: Große Länder liebt man nicht, egal was sie tun oder nicht tun. Sie sind einfach schuldig qua ihrer Größe.
Trotzdem wird der Holocaust für die nächsten zehn ganz entscheidenden Jahre in der Grundsteinlegung des neuen Europa in den wechselseitigen Beziehungen Deutschlands mit der Welt eine zwar immer geringer werdende, jedoch stets spürbare Präsenz haben. Und deshalb wird die Form und Substanz dieser Institutionalisierung weiter zur Debatte stehen. Wir sehen dies bereits in der gärenden Konfrontation um das Berliner Holocaust-Denkmal: Wird die „weichere“ Darstellung Michael Naumannscher Provenienz gewinnen oder gar die Schrödersche „feel-good“-Version, in der sich zukünftige Generationen Deutscher gerne an einem Sonntagnachmittag tummeln werden? Oder bleibt es bei der schroffen, kalten Eisenman-Konstruktion, die sicherlich keinen erlabenden Blick ins Zentrum der neuen Hauptstadt verkörpern würde? Vielleicht sind beide Vorschläge nicht die richtigen, und es bedarf eines dritten oder gar vierten. Aber so wie es jetzt aussieht, werden die zwei bereits vorhandenen Versionen dem Bundestag im Frühjahr unterbreitet, und die gewählten Repräsentanten des deutschen Volkes werden dann diese wichtige Entscheidung treffen.
Ich kann zur Ästhetik des Eisenman-Entwurfs nur wenig sagen. Wichtig aber ist, daß überhaupt ein Mahnmal gebaut wird. Bibliotheken, Austellungen und Veranstaltungsstätten sind von großer Bedeutung, aber sie dienen anderen – oft komplementären – Zwecken als Mahnmale. Diese sieht man auch von außen, ohne den Extraweg eines Besuchs zu machen, die bei jenen erforderlich sind. Und das ist ein Unterschied ums Ganze. Unbedingt notwendig bleibt, daß dieses Mahnmal nicht nur Juden, sondern auch andere Opfer des Holocaust mit einschließt, vor allem Sinti, Roma und Schwule, also alle jene Opfer, die zu Zehntausenden von den Nazis verfolgt und ermordet wurden, obwohl sie nie in einem Krieg mit Deutschland verwickelt waren. Dies würde das Holocaust-Denkmal von einem „normalen“ Kriegsdenkmal grundlegend unterscheiden.
Was dann mit dem Denkmal passiert – ob es beachtet oder verpönt wird, von Touristen fotografiert oder auch mit Graffiti beschmiert, rund um die Uhr beschützt werden muß oder ungeschützt stehen kann – das vermag heute niemand zu beantworten.
Aber eines ist sicher: Wenn das Denkmal nicht gebaut wird oder zu einem museumsartigen Ausstellungsort mutiert, setzt es einen weiteren Pflock in das bereits begonnene Konstrukt eines Schlußstrichs. Und das fände ich wirklich verhängnisvoll, denn die Debatte um die deutsche Erinnerung, um die Shoah, ist ein Grundpfeiler der deutschen Demokratie. Sie ist Teil des umstrittenen Raums, der die Bonner Republik so bereicherte und die Berliner Republik weiter bereichern wird. Im Sinne dieser demokratischen Streitkultur hoffe ich sehr, daß Walsers vermeintlicher Befreiungsschlag nur die Diskussion weiterfördert. Möge sie blühen und gedeihen. Andrei S. Markovits
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen