piwik no script img

Ideologische Nebelbomben

■ Der Insektenforscher und Soziobiologe Edward O. Wilson fordert in seinem Buch "Die Einheit des Wissens" mehr Vertrauen in die Genetik als Erklärungsmodell des Menschen. Seine Konsequenz ist eine gezieltere Bevölke

Ein Mensch kommt auf die Welt – doch die Chancen, daß er es im Leben einmal weit bringen wird, stehen schlecht. Wie eine Musterung seiner Erbanlagen ergeben hat, neigt er zu diversen Krankheiten und wird wahrscheinlich relativ früh sterben. Und ausgerechnet so jemand will unbedingt Astronaut werden! Er weiß, daß er schlechte Karten hat, muß deshalb falsch spielen und schafft es dann schließlich doch. „Gattaca“, ein Film, der diese Geschichte erzählt, spielt in der nahen Zukunft.

Die Gene sind in dieser Version der Leistungsgesellschaft so wesentlich geworden, daß Menschen nach ihnen sortiert werden: Arbeitskräfte können beim Vorstellungsgespräch einen noch so blendenden Eindruck machen; die Entscheidungsträger müssen sich bei solchen Selbstdarstellungen nicht mehr lange aufhalten, sondern können gleich das Maßgebliche in den Blick nehmen: Ein Haar oder Fingerabdruck sagen mehr als tausend Worte; jedenfalls dann, wenn man ihnen einen Satz von Daten über die wahrscheinliche Lebenserwartung und Krankheitsanfälligkeit entnehmen kann, die dann das genetische Profil der betreffenden Person ergeben.

Daß der Zug in diese Richtung längst abgefahren ist, steht für den Insektenforscher und Soziobiologen Edward O. Wilson außer Zweifel. Dennoch vertritt Wilson in seinem neuen, vielbeachteten Buch „Die Einheit des Wissens“ die Überzeugung, daß, selbst wenn die genetische Innenausleuchtung in Zukunft eindeutig funktionieren sollte, die Frage nach der Natur des Menschen keineswegs auf der Strecke bleiben muß. Nur wird man, so versichert er, bei ihrer Beantwortung ein gutes Stück vorangekommen sein. An die Sozial- und Kulturwissenschaften appelliert er, ihre Reserviertheit gegenüber der Biologie aufzugeben und nun ebenfalls auf diesen Zug zu springen. Auch ihr Thema sei schließlich der Mensch, und den wolle, entgegen anderslautender Gerüchte, eigentlich niemand auf seine Gene reduzieren. Anerkennen müsse man nur eine „genetisch-kulturelle Interaktion“, deren Erforschung gemeinsamer Anstrengungen bedarf.

Was genetisch bestimmt ist, räumt Wilson ein, kann von Kultur zu Kultur sehr verschieden gehandhabt werden. „Es wäre absurd, von Genen zu sprechen, die Landwirtschaft, Schrifttum, Priesterschaft und monumentale Grabmäler festlegen.“ Besonders weit führt diese Einsicht jedoch nicht.

In Wilsons Darstellung dieser genetisch-kulturellen Interaktion erscheinen Kulturen als eine Reihe von mehr oder weniger erfolgreichen Anpassungsleistungen an eine vorgegebene Umwelt. „Alle Säugetiere, auch der Mensch, bilden ihre Gesellschaft auf der Basis einer Vereinigung von rein egoistischen Interessen. Für Säugetiere ist Sozialleben eine Einrichtung zur Förderung des eigenen Überlebens- und Reproduktionserfolges.“ Dieser Gedanke ist pauschal genug, um in ihm die eine oder andere ideologische Nebelbombe zu lagern. Und die werden auch gezündet, was sich spätestens dann herausstellt, wenn Wilson auf Gesellschaften zu sprechen kommt, die sich damit herumschlagen müssen, daß sie bei der Erfüllung der ihnen zugedachten Aufgabe zuviel des Guten getan haben: Sie verkraften ihren Reproduktionserfolg nicht mehr, denn es gibt zu viele Individuen, weshalb Bürgerkriege und andere soziale Katastrophen die natürliche Folge sind. In dieser Erklärung spielen politische Gewalten keine nennenswerte Rolle. Sie werden erst bemüht, weil der Autor vor den naheliegenden barbarischen Konsequenzen zurückschreckt.

Politik ist etwas, das bei Wilson vor allem Bevölkerungspolitik sein muß, wobei er nicht näher bezeichnete verantwortliche Mächte ermahnt, sich stärker von einer „umweltverträglichen Ethik“ leiten zu lassen. Das heißt auch: „Wir brauchen neue Fortschrittsindikatoren für die Überwachung der Wirtschaft. Und die dürfen nicht nur die ökonomische Produktion, sondern müssen auch die Natur und das Wohlergehen der Menschheit zur Gänze in Rechnung stellen.“ Das sind schon sehr weitgehende Formulierungen. Von jemandem, der gleichzeitig an „solide marktwirtschaftliche Praktiken“ glaubt, kann man mehr kaum erwarten.

Für eine Beschäftigung mit gesellschaftlichen Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnissen, die nichts zu deren Begründung aus der menschlichen Natur beiträgt, ist in Wilsons Programm einer Einheit des Wissens kein Platz vorgesehen. Sie würde sich auch schlecht mit der weltanschaulichen Orientierungshilfe vertragen, die dieses Programm verspricht. Das Buch ist vor allem eine Apologie, also eine Werbeschrift. Geworben wird um Vertrauen in die Wissenschaft; als bräuchte sie vor allem ideellen Kredit, lobt Wilson die vielversprechenden Ansätze zur Überwindung von Relativismus und Ineffizienz (verkörpert durch die diversen Spielarten des Postmodernismus). Vor allem eine Disziplin, die von ihm mitbegründete Soziobiologie, befindet sich bereits auf dem richtigen Weg zu immer mehr voraussagbarem Wissen.

Bei der Soziobiologie handelt es sich um eine Theorie, die vielfältig mit Berechnungen, Methoden, Annahmen und Voraussagen der Populationsgenetik verschränkt ist. Das Verhalten von Individuen wird daraufhin gemustert, ob und inwiefern es dazu beiträgt, den Fortbestand der eigenen Gene zu gewährleisten. In gewissem Maße tragen dazu auch diejenigen Individuen bei, die auf die Zeugung eigener Nachkommen verzichten und dafür Verwandten bei der Aufzucht von deren Kindern helfen.

Zu wissenschaftlicher Reputation konnte diese These erst gelangen, als mittels neuer Techniken der Datengewinnung die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Individuen in einem bisher ungeahnten Maße nachweisbar wurden. Wie das Beispiel des genetischen Fingerabdrucks zeigt, stammen diese den Individuen abgewonnenen Daten aus einem Bereich, der fortan als deren tiefstes Inneres (was aber nicht psychologisch zu verstehen ist!) gelten sollte. Hier, in diesem bestens geschützten Innenraum, auf den Chromosomen im Zellkern, konnte man die DNS-Sequenzen als Muster sichtbar machen, anhand derer sich Individuen sowohl unverwechselbar identifizieren als auch zueinander in mehr oder weniger große Nähe setzen ließen.

Wie die sichtbar gemachten genetischen Unterschiede nun aber Verhaltensweisen in ihrer Unterschiedlichkeit bestimmen, hat bislang noch niemand nachweisen können. Der Glaube daran, daß dieser Zusammenhang in absehbarer Zeit deutlicher wird, läßt sich davon nicht beirren. Genug zu tun gibt es für ihn allemal, auch wenn es sich nur um Vorarbeiten handelt: Indem man ein Verhalten isoliert und auf Klischees oder Stereotype reduziert, kann man es immer so aussehen lassen, als würde es aus der Hinterwelt der Gene gesteuert.

In den Szenarien, die die Öffentlichkeit über die Geschehnisse in dieser Hinterwelt auf dem laufenden halten, führen die Gene längst ein wundersames Eigenleben; sie agieren als die möglicherweise verantwortlichen Kräfte für alles, was im Verhältnis zwischen Individuen und ihren Körpern problematisch werden kann: Krankheit, Alter, Schönheit usw. Das gesellschaftliche Imaginäre, das die Verlautbarungen aus der Welt der Wissenschaft auf ganz eigene Weise versteht, kann sich dann etwa mit der Frage beschäftigen, ob das, was mit Dolly, dem geklonten Schaf, geschah, irgendwann vielleicht auch Claudia Schiffer widerfahren könnte.

Gebannt von solchen Zukunftsvisionen sind aber auch die seriöseren Spielarten dieses Diskurses, etwa diejenigen, die sich mit einem Buch wie dem Wilsons beschäftigen. Seine Sichtweise drängt sich eben auch solchen Positionen auf, die der von ihm vorausgesagten Entwicklung nur mit humanistischen Vorbehalten folgen wollen. Dieser allzu folgsamen Kritik bleibt nur die Warnung vor dem „heillosen Durcheinander“ (so Gustav Seibt in seiner Rezension für die Berliner Zeitung), das der Mensch anrichten wird, wenn er „an den Grundlagen der Entwicklung des Lebens herumzuarbeiten beginnt“.

Daß aber auch die Wissenschaft selber mit dem gesellschaftlichen Imaginären nicht erst dann in Berührung kommt, wenn sie für Großforschungsvorhaben wie das Human Genome Project werben muß, wird sehr gut in einem Buch gezeigt, das im Vergleich zu Wilsons Schrift nur wenig Resonanz gefunden hat. Evelyn Fox Kellers „Das Leben neu denken“ beschäftigt sich mit einigen bestimmenden „Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert“ – bestimmend deshalb, weil anhand der Entwicklung dieser Leitbilder, Vorannahmen, Selbstverständlichkeiten, forschungspolitischen Prioritäten die gesellschaftlichen Verstrickungen der biologischen Forschung deutlich werden, ohne daß deren Eigendynamik einfach bestritten würde. Wilson selbst legt eine Fährte in diese Richtung: Mit einem allgemein gehaltenen Dank an Newt Gingrich im Anhang seines Buchs.

In der Geschichte der Biologie gab es bereits mehrere Versuche, diese Disziplin zur Begründung und Rechtfertigung einer angewandten Sozialwissenschaft heranzuziehen: Sozialdarwinismus, Eugenik, Rassenhygiene gehören zu den bekanntesten Beispielen. Wenn Wilson, selten genug, auf derartige Projekte zu sprechen kommt, dann nur, um zu versichern, daß solcher Mißbrauch um so weniger zu erwarten ist, als biologisches Wissen zukünftig seinen Nutzen für alle Welt überzeugend unter Beweis stellen wird. Nach genaueren Angaben über Kosten und Nutzen, Gewinn und Schaden braucht man überhaupt nicht erst zu suchen: daß es immer um den Menschen geht, diese Auskunft muß genügen. Um Wissen überzeugend als ganz grundsätzliche Wahrheit über die menschliche Natur darbieten zu können, empfiehlt sich offenbar vor allem eines: Man muß dieses Wissen so präsentieren, daß die Umstände seiner Produktion nicht weiter auffallen – wobei es ziemlich unerheblich ist, ob es aus den Sozial- oder den Naturwissenschaften kommt. Cord Riechelmann,

Sebastian Weber

Edward O. Wilson: „Die Einheit des Wissens“. Siedler Verlag, Berlin 1998, 442 S., 49,90 DM

Evelyn Fox Keller: „Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert“, Verlag Antje Kunstmann, München 1998, 38 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen