: Der Traum vom Leben ohne Schulden
Böse Briefe, Gläubiger, Gerichtsvollzieher: Die Schuldner hoffen, daß das neue Insolvenzrecht ihre Plagen beendet. Doch nur jeder dritte wird eines Tages wirklich ohne Schulden dastehen, für die meisten sind die Hürden zu hoch ■ Von Daniela Weingärtner
Bei Heinz Glasen* brauchte es eine Psychotherapie, eine Scheidung, mehrere Nervenzusammenbrüche. Dann erst kam er auf die Idee, es einmal mit der Schuldnerberatung zu versuchen. Noch heute sagt der Mann, der die genaue Höhe seiner Schulden nicht kennt, der seine Aktenordner im häuslichen Durcheinander nicht finden kann, der keine Ahnung hat, wieviel Geld er jedes Jahr für Kohlen ausgibt: „Ich bin von Haus aus sparsam erzogen. Ich kann sehr gut mit Geld umgehen.“
Seine Beraterin lächelt darüber. Sie hört solche Sätze seit zwanzig Jahren. Und sie weiß inzwischen, daß es Lebenslügen gibt, die überlebenswichtig sind. Zumindest eine Zeitlang. Es gibt sogar Schulden, die überlebenswichtig sind. Als eifrige Anfängerin im Beratungsgeschäft hat Christel Berg vor Jahren den Schuldenberg eines Ehepaars abzutragen geholfen und damit indirekt die Trennung ausgelöst. Auch eine Eltern-Kind-Beziehung hat sie kaputtgemacht: Die Kinder hatten wegen der Schulden immer bei den Eltern essen müssen und ließen sich schuldenfrei nicht mehr dort blicken. Aus solchen „Erfolgen“ hat sie ihre Lehren gezogen: „Manchmal muß man Dinge laufen lassen, wenn Menschen noch nicht soweit sind.“
Längst nicht alle, die der Sozialpädagogin und Leiterin der Bonner Schuldnerberatung am Schreibtisch gegenübersitzen, sind Finanzchaoten: „Den typischen Schuldner, die typische Verschuldung gibt es nicht“, weiß Frau Berg, die mit ihrem schlichten Kurzhaarschnitt und der nüchternen Kleidung wirkt, als wolle sie ihren Klienten ein Vorbild an Selbstbescheidung sein.
Dabei hat sie viel Verständnis dafür, wenn Menschen im Finanzdschungel die Übersicht verlieren oder verlockenden Werbesprüchen nicht widerstehen. „Heute muß keiner fragen, ob er anschreiben lassen darf. Jeder kann sein Konto überziehen. Es fehlt die sinnliche Erfahrung, daß ich Geld ausgebe. Allein die Wortwahl! Wenn ich am Automaten Geld abhebe, erscheint im Display: Ihr Wunsch wird bearbeitet!“
In einer Welt, in der jeder Wunsch sofort erfüllt, die dicke Rechnung aber erst später präsentiert wird, ist Sparsamkeit zum Fremdwort geworden. Zwei Millionen bundesdeutsche Haushalte gelten als überschuldet. Viele Familien haben das neue Insolvenzrecht, das zum Jahreswechsel in Kraft getreten ist, sehnlich erwartet. Die in Aussicht gestellte „Restschuldbefreiung“ – bei Altfällen nach fünf, in Zukunft nach sieben Jahren – erscheint ihnen wie die Erhörung ihrer Gebete.
Auch Barbara Peters setzt alle Hoffnung darauf. Die 65jährige ist immer korrekt gewesen. Auf den Pfennig kennt sie die Ausgaben ihres kleinen Haushalts. Sie hätte keine Sorgen, wenn sie sich vor 15 Jahren nicht an ihre Lebenslüge geklammert hätte: „Man hat schließlich bessere Tage gesehen.“
Als der Gerichtsvollzieher das letzte Mal kam, ist Frau Peters im Nachthemd zur Tür gekrochen. Sie hatte ein Attest zum Gericht geschickt, daß sie derzeit nicht gehen könne. „Aber das erkennt ein Gericht nicht an“, sagt sie vorwurfsvoll. Der Gerichtsvollzieher packte sie ins Auto. Sie mußte wieder einmal die eidesstattliche Versicherung leisten – früher als Offenbarungseid bekannt. Alle drei Jahre hat sie dafür persönlich bei Gericht zu erscheinen.
Barbara Peters artikuliert jedes Wort sorgfältig, als wollte sie es genauso glattstreichen wie die zartgelben Sofakissen und die gestärkte Tischdecke in ihrem Wohn-Eßzimmer. Die kleine Zweizimmerwohnung in der Nähe von Bonn schimmert in gelb und apricot. Helle Teppichböden, Vorhänge passend zum Bettüberwurf – die gepflegte Dame ist Weltmeisterin, wenn es darum geht, den schönen Schein aufrecht zu erhalten. Erst auf den zweiten Blick sieht man der Couchgarnitur an, daß sie 20 Jahre auf dem Buckel hat. „Aber wenn man seine Sachen pflegt ... Man hat ja auch mal Geld verdient, bessere Tage gesehen, wie gesagt ...“
Wer sich auf die Lebensgeschichte von Barbara Peters einläßt, wird die „besseren Tage“ vergeblich suchen. Sicher kein Zufall, daß die Misere mit einer „Mußehe“ begann. Als junge Sekretärin hat sie ihr eigenes Geld verdient. Mit Anfang dreißig wurde sie schwanger. Sie ging eine Ehe ein, von der sie heute sagt: „Ein schwerer Fehler.“ Aber schon als junge Frau war sie wohl zu Opfern bereit, wenn sie dadurch den Schein wahren konnte. Wegen des Babys mußte sie die Arbeit aufgeben. Ließ sich ihre Rentenansprüche auszahlen, um das Notwendigste für den neuen Haushalt anzuschaffen. Fünf Jahre später wurde die Scheidung ausgesprochen. Als ihr Sohn zehn war, suchte sie sich wieder eine Stelle bei einer Baufirma, wo sie zuletzt 3.400 Mark brutto verdiente. Sie verkaufte ihr Elternhaus und benutzte den Erlös als Grundkapital für ein modernes Eigenheim mit Garage und Untermietzimmer, Monatsbelastung 1.200 Mark. Noch heute begründet sie diese Entscheidung so, als hätte es keine Alternative gegeben: „Das alte Haus war renovierungsbedürftig. Man hätte es an Ausländer vermieten müssen, die keine Ansprüche stellen. Da hätte man nur wenig Miete bekommen.“
Auch in dieser Zeit mit der hohen Hypothekenbelastung bei vergleichsweise niedrigem Einkommen hat Frau Peters auf den Pfennig gesehen. Dennoch sind es diese acht Jahre, die sie ihre „besseren Tage“ nennt. Für ihre Nachbarn war sie nun eine respektable Frau mit Eigenheim – ganz gleich, welche Kraftanstrengung das für sie und ihren Sohn bedeutete.
„Und dann kam der Schlag.“ Genau betrachtet waren es mehrere Schläge. Als ihr Sohn 18 wurde, verlor sie den Anspruch auf Witwenrente aus ihrer geschiedenen Ehe. Die Baufirma meldete Konkurs an – Barbara Peters war mit 56 Jahren arbeitslos. Sie ging sofort zum Arbeitsamt, bekam aber nie wieder eine Stelle. So lebte sie von 62 Prozent des letzten Nettolohns und versuchte dennoch verzweifelt, die Hausschulden abzustottern, die Fassade ihres „besseren“ Lebens. Sie bestürmte die Banken stillzuhalten. Schließlich ging sie zum Sozialamt und beantragte ein Darlehen zum Erhalt der Wohnung. Das bekam sie zu 2 Prozent, später wurden die Zinsen erhöht, ihr Schuldenberg wuchs.
Heute ist Barbara Peters froh, daß die Banken irgendwann nicht mehr mitspielten. „Das ging schon alles viel zu lange.“ Da ist die Beraterin Christel Berg anderer Meinung. Sie hat die Erfahrung gemacht, daß jeder Mensch eine emotionale Zeit braucht, um sich von Besitz zu trennen. „Und wenn diese Zeit auch nochmal 10.000 Mark kostet, kann sie trotzdem sehr wichtig sein, damit der innerliche Schritt überhaupt möglich wird. Sich von einem Haus zu trennen, kann einen genauso verfolgen wie Schulden oder eine Partnerschaft, die zu früh beendet wurde.“
Barbara Peters würde dem nicht zustimmen. Sie ist es nicht gewöhnt, über ihre Seelenlage zu grübeln. Tatsächlich aber war der Hausverkauf der schwerste Schlag ihres Lebens. Als sie endlich dazu bereit war, wollte niemand das Haus haben. Jedenfalls nicht zu einem Preis, mit dem sie die Hypotheken hätte ausgleichen können. Es blieben 70.000 Mark Schulden. Aus der respektablen Nachbarin war eine Bankrotteurin geworden. Dutzende mit ähnlichem Schicksal kommen jede Woche in die offene Sprechstunde der Bonner Schuldnerberatung. Schon jetzt dauert es neun Monate, bevor die regelmäßige Beratung beginnen kann. Neun von zehn kommen pünktlich zum ersten Termin. Ihre Geldsorgen schleppen die meisten schließlich viel länger herum als ein dreiviertel Jahr.
In Zukunft wird der Andrang noch zunehmen. Denn das neue Insolvenzverfahren verlangt als ersten Schritt einen außergerichtlichen Einigungsversuch, der von einem Anwalt oder einer anerkannten Beratungsstelle betreut wird. Bei zwei Dritteln aller Fälle, so schätzt der Bonner Insolvenzrichter Ulrich Feyerabend, sieht die Lage allerdings ähnlich aus wie bei Barbara Peters und Heinz Glasen. Für sie wird sich durch das neue Recht nichts ändern. Frau Peters liegt mit ihrer Rente von 1.200 Mark unter der Pfändungsgrenze. Herr Glasen, der eine Frau und vier Kinder ernährt, darf bis zu 3.100 Mark netto verdienen, ohne daß seine zahlreichen Gläubiger einen Pfennig bekommen.
Einen „Nullplan“ nennt Feyerabend solche Einkommensverhältnisse, die keinen Spielraum lassen für monatliche Rückzahlungen. Ein Schuldenbereinigungsplan, angelegt auf fünf oder sieben Jahre, der, wie es das Gesetz verlangt, die Gläubigerinteressen berücksichtigt, ist unter solchen Voraussetzungen undenkbar. Ob dennoch nach der Wohlverhaltenszeit – keine neuen Schulden, keine verheimlichten Nebeneinkünfte – die Restschuld getilgt werden kann, wird unter Fachleuten derzeit heiß diskutiert. Ungeklärt ist auch, ob der Schuldner die Kosten trägt oder ob in Härtefällen Prozeßkostenhilfe gewährt werden kann. Allein der Antrag auf Aufnahme ins Insolvenzverfahren umfaßt 40 Seiten – und wenn Anwälte und Bürokraten jahrelang solche Mengen Papier bewegen, ist das teuer.
Über all diese Fragen läßt sich Karen Bergmann keine grauen Haare wachsen. Seit Jahren zahlt sie von ihrem Gehalt als Supermarktverkäuferin monatlich 600 Mark ab, weil der Mann, von dem sie geschieden ist, vor zwanzig Jahren den Traum vom Eigenheim träumte und sie den Kreditantrag mit unterschrieb. Der Keller war noch nicht fertig ausgeschachtet, da liefen die Kosten schon davon und die Bank drehte den Geldhahn wieder zu. Offen blieben Rechnungen für Baupläne, Grundstück, Finanzberater. Die Kreditzinsen und Gebühren stiegen schneller, als Frau Bergmann abstottern konnte. Heute steht sie allein für 60.000 Mark Schulden ein, denn bei ihrem arbeitslosen Exmann ist nichts zu holen.
Karen Bergmann kann durch die geänderte Rechtslage von einer Zukunft ohne böse Briefe und Gerichtstermine träumen. Wenn sie noch fünf Jahre von 1.400 Mark im Monat lebt, wenn sie keine neuen Schulden macht und keinen Lottogewinn verschweigt, kann sie danach ein neues Leben anfangen. „Ich mach' das wie Beppo Straßenkehrer aus dem Momo-Buch“, sagt sie und lächelt. „Ich schau nicht hin, wie lang diese Straße noch ist, ich kehr' jeden Tag mein Stückchen.“ Ein Gleichmut, um den mancher Schuldner sie beneiden dürfte.
* Namen aller Schuldner geändert
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