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Lola und die Zeichendiebe

Symbolische Aktionen, Unterschriften gegen das Staatsbürgerschaftsrecht und ein rennender Diepgen. Wie die neue Opposition von den 68ern eingefädelte Protestformen adaptiert und warum deren Zeit vorbei ist  ■ Von Harry Nutt

An Universitäten ist dergleichen nichts Ungewöhnliches. Wo das Sprechen über Gesellschaft eingeübt wird, gehörte in den letzten 30 Jahren die Verhinderung von Rede als affektive Ausnahme mit zum Spiel. Das Gefühl eigener Ohnmacht kann mühelos durch die akustische Inbesitznahme des Raumes kompensiert werden.

Für den Moment war am Mittwoch abend an der Berliner Technischen Universität alles wie früher. Weitgehend argumentfreie Parolen und der Lärm der Trillerpfeifen übertönten eine Stimme der Macht. Dabei hatte Wolfgang Schäuble gar nicht über die Kampagne der CDU gegen das neue Staatsbürgerschaftsrecht reden wollen, sondern bloß über „Hochschule im Zeitalter der Globalisierung“. Schäuble, mit derartigem Entzug des Rederechts im universitären Raum durchaus vertraut, vermied Betroffenheit und übte sich statt dessen in psychologischer Einfühlung in den einstmals studentischen Jargon. „Es muß frustrierend sein“, sagte er anschließend zu Zuhörern im kleineren Kreis, „auf dem Flur herumzubrüllen.“

Seit dem freien Fall in die Opposition begegnet man im christdemokratischen Umfeld den studentischen Protestformen keineswegs nur auf der anderen Seite. Die neue CDU-Generalsekretärin Angela Merkel probierte sich kürzlich an den Mitteln der Spaßguerilla. Weil ihrer Partei die Wähler der Mitte abhanden gekommen sind, organisierte sie einen symbolischen Rücktransport. In einem LKW mit der Aufschrift „Die neue Mitte zieht um“ beförderte sie große, leere Kisten von der Bonner SPD-Parteizentrale ins Adenauer- Haus, wo bereits ein Transparent mit der Aufschrift prangte: „Die neue Mitte kommt wieder nach Hause.“

Ein Indiz dafür, daß die politische Wende nicht mit dem Auffahren von ein bißchen Umzugslogistik rückgängig zu machen sein wird, ist auch die Plakataktion des Berliner Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen. Eine Adaption des Plakats von Tom Tykwers Erfolgsfilm „Lola rennt“ zeigt Diepgen, von dessen Amtsmüdigkeit zuletzt häufiger die Rede war, als dynamischen Läufer für seine Stadt.

Der Fototermin für das ins Bild gesetzte Joggen gegen den drohenden Machtverlust hat dem Bürgermeister, betrachtet man seinen Gesichtsausdruck, bereits einige Anstrengung abverlangt. Es ist freilich nicht ohne Charme zu sehen, wie Diepgen unter Zuhilfenahme des Know-hows avancierter Werbeagenturen sich des Zeichenvorrats derer bemächtigt, die man für künstlerische Avantgarde hält. Das brachte Diepgen denn auch prompt eine Urheberrechtsklage ein.

In der Union scheint man davon auszugehen, daß sich mit dem Wechsel der politischen Macht auch der Kampf um kulturelle Hegemonie neu entfacht. Es gehört zur schmerzlichen Lesart der Ära Kohl, daß das kulturelle Kapital im linken Milieu beheimatet war. Dabei war es gerade ein Garant Kohlscher Machtpolitik, sich um die kulturellen Eliten so gut wie gar nicht zu scheren, wenn man einmal von Ernst Jünger absieht.

Die jüngeren Kader wollen aber nicht länger als kulturresistent gelten. Diepgens Parteifreund Uwe Lehmann-Brauns hatte letzte Woche eine Idee, wie man sich ein Stück des kulturellen Erbes der Linken gewinnbringend einverleiben könnte. Die frühere Wohnung Wolf Biermanns in der Berliner Chausseestraße 131, so der Vorschlag des kulturpolitischen Sprechers der Berliner CDU, solle zu einer Art Mahnmal und Dokumentationszentrum gegen Stasiverbrechen ausgebaut werden. Die Nachrichtenagenturen können derzeit nicht genug bekommen vom Phantasieren der politischen Klasse über symbolische Gestik und Erinnerungskultur. Wo das seit mehr als zehn Jahren debattierte Holocaust-Mahnmal beste Chancen hat, als Potpourri verwirklicht zu werden, da treibt die Vorschlagskultur Blüten. Auf den Input kommt es an.

Auf ähnliche Weise muß auch die Idee für eine Unterschriftenaktion gegen das neue Staatsbürgerschaftsrecht ins Spiel gekommen sein. Hauptsache, Lola rennt schon mal los. Tom Tykwers Film war in diesem Sinne ja bereits Multioptionskino, eine Geschichte in verschiedenen Versionen. Für jeden ist was dabei. Unterschreiben Sie hier.

Das Sammeln von Unterschriften zählt zu den emphatischen Handlungs- und Ausdrucksweisen außerparlamentarischer Opposition. Die einzelne, nicht gehörte Stimme erhebt ihren Anspruch im Niederschreiben des eigenen Namenszugs. Sie ist stimmloser Appell. Die massenhaft gesammelten Unterschriften besiegeln keinen Vertrag, sondern signalisieren gerade das Fehlen eines Vertrags. Seine Unterschrift gibt man mit der pathetischen Geste des Protests zu Protokoll. Daß sie nichts bewirken wird, erhöht nur die moralische Integrität.

Der Systemtheorie Niklas Luhmanns zufolge unterscheidet sich die Form des Protests von der Form der politischen Opposition. „Die Opposition ist von vornherein Teil des politischen Systems. Das zeigt sich daran, daß sie bereit sein muß, die Regierung zu übernehmen bzw. an ihr mitzuwirken. Das hat einen disziplinierenden Effekt. Man mag die Kritik der Regierung zwar rhetorisch und wahltaktisch überziehen, aber letztlich muß man darauf gefaßt sein, die eigenen Ansichten als Regierung vertreten und ausführen zu können. (...) Der Protest braucht in all diesen Hinsichten keine Rücksicht zu nehmen. Er geriert sich so, als ob er die Gesellschaft gegen ihr politisches System zu vertreten hätte.“

Der Protest, so Luhmann, negiert schon strukturell die Gesamtverantwortung. Man ist in der Gesellschaft im Namen der Gesellschaft gegen die Gesellschaft – und zwar, als ob der Protest von außen käme, oder, mit der Systemtheorie der Beatles: Your inside is out and your outside is in. Mit der Unterschriftenaktion beansprucht die CDU die Position einer besseren Sicht von außen.

Auf der Suche nach neuen Politikformen ist sie dabei derzeit nicht wählerisch. Der Gebrauch ungewohnter, und folgt man Luhmann, letztlich auch illegitimer Zeichen, ist dabei allerdings lustiger als das Erzeugen von Schwersymbolik. Hinter der Forderung, die Bürger künftig auf die Verfassung schwören zu lassen, steht eine Auffassung vom Staat als Zivilreligion, die der Praxis demokratischer Verfahren zuwiderläuft. Der Schwur ist eine archaische Version der Unterschrift und ein Rückschritt im Prozeß der Verrechtlichung. Mit wohlwollendem Blick kann man es als Unsicherheit im Umgang mit der neuen politischen Rolle werten, daß sich die Christdemokraten an Protestformen abarbeiten, die strukturell nicht die ihren sind. So gesehen hatte nicht die Regierung einen Fehlstart, sondern mühen sich die politischen Lager insgesamt mit den neuen Zuschreibungen ab. Das Wahlvolk, so scheint es, findet vorerst Gefallen daran. Die demoskopischen Werte jedenfalls verraten nichts von Staatsverdrossenheit oder ähnlichem.

Der Rückgriff der CDU auf Unterschriftenlisten und symbolische Aktionen wiederholt Geschichte als Farce, wie auch die Störung des Schäuble-Vortrags den schalen Beigeschmack hatte, eine schnöde Wiederholung eines schönen anarchischen Tages aus einer anderen Zeit zu sein. Über ihre Putzigkeit hinaus verweisen solche Aktionen auch auf eine Leerstelle. Die Zeit der großen sozialen Bewegungen ist vorbei. Es sind keine in Sicht, auf deren Gespür für gesellschaftliche Defizite oder Sinn für Irritation man in naher Zukunft setzen könnte. Das hat auch mit ihrer spezifischen Unfähigkeit zur Selbstbeobachtung zu tun. Niklas Luhmann war insgesamt skeptisch, was die Fähigkeit der Protestbewegungen angeht, Gesellschaft zu beschreiben. „Von Protestbewegungen ist nicht zu erwarten, daß sie begreifen, weshalb etwas so ist, wie es ist; und auch nicht, daß sie sich klarmachen könnten, was die Folgen sein werden, wenn die Gesellschaft den Protesten nachgibt.“

Sieht man von den nicht anschlußfähigen sozialen Bewegungen von rechts ab, so hat mit dem Einzug der Grünen in die Regierungsverantwortung eine weitreichende Aufhebung der Protestformen stattgefunden. Für und gegen das neue Staatsbürgerschaftsrecht lassen sich gewiß viele Argumente finden. Die Position bloßen Dagegenseins, wie sie die Unterschriftenaktion behauptet, ist vor allem lächerlich. Phantasievolle neue Formen wie beispielsweise die der feindlichen Übernahme der Berliner FDP durch Studenten mündete bemerkenswerter Weise in einem Partizipationsmodell.

Es ist von besonderer Ironie, daß ausgerechnet die CDU die Erfahrung einer neuen Untauglichkeit der Protestformen machen muß. Jetzt zeigt sich, daß die Bundestagswahl keineswegs bloß ein Farbwechsel, sondern auch ein Programmwechsel hinsichtlich der politischen Ausdrucksformen war. Das hat nicht zuletzt auch Irritationen bei denen erzeugt, die den Wechsel herbeigeführt haben. Ein Name für diese Irritation heißt Neue Mitte. Die Zugehörigkeit zu ihr definiert sich nicht mehr nur über das Einkommen oder die soziale Lage, sondern auch über Haltungen, eine Neupositionierung von Kritik und ein verändertes Verständnis von sozialer Teilhabe.

Das Ende der Protestbewegungen evoziert die Frage nach neuen Definitionen. Auf die Frage: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, gab der Soziologe Ralf Dahrendorf kürzlich eine kurze Antwort: „Wir leben nach wie vor in der modernen Gesellschaft. Ihr Kernstück ist die Tatsache, daß der einzelne und die von ihm bewußt geschlossenen vertraglichen Beziehungen im Vordergrund stehen, und nicht die Herkunft oder ein ererbter Status.“

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