„Deutscher Herbst“ in der Türkei

■ Die türkische Regierung will sich das Problem PKK endgültig vom Halse schaffen, Einfluß auf ihr Vorgehen haben allenfalls die USA

Wer erinnert sich nicht mehr an die Bilder, als der deutsche Staat seine Triumphe gegen die RAF feierte. Der gefesselte Baader bei seiner Festnahme. Die Debatten, als eine deutsche Lufthansa-Maschine von einem palästinensischen Kommando gekapert wurde, als plötzlich der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe nicht nur aus der ultrarechten Ecke erscholl. Wer sich daran erinnert, wie in den Tagen nach Mogadischu die Stimmung in Deutschland war, kann sich ungefähr ein Bild davon machen, wie es zur Zeit in der Türkei aussieht.

Nach 15 Jahren eines von beiden Seiten oft bestialisch geführten Bürgerkrieges, nach einer massiven Kriegsdrohung gegen Syrien – das türkische Militär war finster entschlossen zuzuschlagen, wenn Assad Öcalan nicht abgeschoben hätte –, nach monatelangem hysterischem Gezerre mit Italien, Griechenland und Rußland feiert der türkische Staat jetzt seinen finalen Triumph – die „Helden aus Mogadischu“ sind zurückgekehrt, und sie haben einen lebenden Abdullah Öcalan im Sack. Es ist schwer, jetzt ruhig Blut zu bewahren. Zur Euphorie über die Gefangennahme Öcalans gesellt sich eine weitverbreitete Angst vor Anschlägen, die, sollte sie sich bewahrheiten, in pure Hysterie übergehen kann. Das Militär, die paramilitärische Gendarmerie, die Polizei und die Geheimdienste wollen diese Situation nicht abwarten. Jetzt wird Tabula rasa gemacht. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben Polizei und Geheimdienste in den letzten Tagen Hunderte von PKK- Sympathisanten, hauptsächlich im Umfeld der kurdischen „Partei des Volkes“ (Hadep) verhaftet. Man will offenbar präventiv die mögliche Logistik der PKK in den türkischen Städten zerschlagen. Bereits in der Nacht, als Öcalan in Kenia hochgenommen wurde, startete das Militär eine neue Großoperation gegen die letzten PKK-Militanten in den Bergen, die sich schnell in den Nordirak ausdehnte.

Die Panik der PKK-Kader nach der Verhaftung Öcalans soll ausgenutzt werden, um der Organisation militärisch den Rest zu geben. Nach offiziellen Angaben der türkischen Armee hat die PKK noch 3.500 Bewaffnete in den Bergen. Seit Dienstag sind 10.000 Soldaten, Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Spezialkommandos dabei, die letzten Stützpunkte der PKK im Nordirak auszuheben. Angeblich fliehen die PKKler völlig aufgelöst in Richtung südlich des 36. Breitengrades, also unter den Schutz Saddam Husseins oder in den Iran. Außerdem soll es zu Auseinandersetzungen um die Befehlsgewalt kommen – wer hat nach Apo das Sagen? Parallel dazu wird in Ankara und Istanbul fieberhaft an der Vorbereitung des Prozesses gegen Öcalan gearbeitet. Man will die Sache möglichst zügig über die Bühne bringen, einen im wahrsten Sinne des Wortes „kurzen Prozeß“ machen – nach den Vernehmungen wird auch die Gerichtsverhandlung gegen Öcalan auf Imrali stattfinden.

In dieser Situation erinnert ausgerechnet Europa die Türkei daran, man solle doch nicht vergessen, Öcalan einen „fairen Prozeß“ zu machen. Wenn irgend jemand in Ankara derzeit nichts zu melden hat, dann sind es die europäischen Regierungen. Selbst ein normalerweise sehr konziliant formulierender Mann wie Außenminister Ismail Cem, ein Linksnationalist aus der Schule Bülent Ecevits, verlor bei seinem Besuch in Prag die Contenance und fauchte, man verbitte sich das koloniale Gehabe der Europäer. Diese Zeiten seien langsam vorbei. Aus Sicht der türkischen Regierung und der türkischen Medien hat erst der Nato- Verbündete Italien die Türkei in übler Weise hingehalten und dann dreist verkündet, man wisse auch nicht, wohin Öcalan verschwunden sei. In dieser Zeit hat der zweite Nato-Verbündete Griechenland Öcalan wochenlang versteckt und darüber feige gelogen. Und die Deutschen, die jetzt von fairem Prozeß reden, haben aus purem Opportunismus darauf verzichtet, genau diesen fairen Prozeß durchzuführen. Nach dem jahrelangen heuchlerischen Gebaren um den türkischen Status gegenüber der EU – benutzen, aber nicht aufnehmen – ist jetzt der Tiefpunkt im Verhältnis zu Europa erreicht.

Man erinnere sich nur daran, welcher Aufruhr in Deutschland von Bild bis Spiegel herrschte, als die französischen Nachbarn sich erdreisteten, die Haftbedingungen der RAF zu kritisieren, dann kann man sich ungefähr vorstellen, wie hilfreich die europäischen Ermahnungen jetzt auch für Abdullah Öcalan sind. Das ist um so schlimmer, als eine konstruktive Intervention von außen dringend notwendig wäre. Nichts wäre wichtiger, als in Ankara jetzt darauf hinzuwirken, daß die Sieger sich großzügig gegenüber den Besiegten zeigen müssen, wenn jetzt Schritt für Schritt der Boden zum Frieden bereitet werden soll.

Bülent Ecevit, der Mann, der politisch längst erledigt schien, der nur noch einmal zum Regierungschef auf Zeit ernannt worden war, weil sich die größeren Parteien untereinander nicht einigen konnten, dieses 73 Jahre alte kemalistische Fossil hat jetzt die allerbesten Chancen, aus den Wahlen im April als Sieger hervorzugehen. Zumindest kann man davon ausgehen, daß er an der nächsten Regierung wieder beteiligt ist – tatsächlich ist er auch ein ernstzunehmender Politiker im Gegensatz zu so halbseidenen Gestalten wie Tansu Çiller oder Mesut Yilmaz. Man wird also mit Ecevit auskommen müssen. Entsprechend seiner Überzeugung, daß das „Kurdenproblem“ kein ethnisches, sondern ein Problem des Feudalismus und der Unterentwicklung ist, sollen nun ökonomische, soziale und bildungspolitische Programme für den Südosten des Landes aufgelegt werden. Ecevit und mit ihm die Militärs davon zu überzeugen, daß die kurdische Minderheit auch ein Recht hat, als kurdische Minderheit akzeptiert zu werden, wird ein hartes Stück Arbeit sein. Nicht nur aus Ecevits Sicht hat Europa sich für diese Rolle disqualifiziert. Automatisch wendet sich in einer solchen Situation der Blick nach Washington. Wenn überhaupt jemand mit der nötigen Autorität auftreten kann, dann sind es die USA. Die Türkei liegt zwar mit den Amerikanern in der Irak-Politik etwas über Kreuz, aber nicht zuletzt die Unterstützung der CIA bei dem Kidnapping Öcalans hat die Stellung Washingtons noch einmal enorm gestärkt. Fragt sich nur, ob die USA sich für die Rechte der Kurden in der Türkei stark machen wollen. Wenn die Europäer etwas tun wollen, dann können sie vielleicht im State Department daran erinnern, daß nicht nur die Kosovo-Albaner kulturelle Rechte haben, sondern auch die Kurden in der Türkei. Jürgen Gottschlich