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Der Ruf nach dem starken Mann

■ Ein "politisches Schwergewicht" wünscht sich der britische Premier Tony Blair an die Spitze der EU-Kommission. Daniel Cohn-Bendit sieht gar Helmut Kohl auf dem Sessel des Präsidenten

Ob es ein Sieg der Demokratie oder eine Niederlage der europäischen Zusammenarbeit war – darüber gingen gestern die Einschätzungen auseinander. Fest stand hingegen am Tag nach dem größten Knall in der 42jährigen Geschichte der Europäischen Gemeinschaft, daß die 20 KommissarInnen Spuren hinterlassen werden. Der Kollektivrückschritt der Vornacht erzeugte Betroffenheit quer durch das geeinte Europa.

In Paris, wo der Senat erst am Montag als letztes Parlament in der EU nach langer kontroverser Debatte seine Zustimmung zum Amsterdamer Vertrag gegeben hatte, sprach der Parteichef der SozialistInnen, François Hollande, von einem „Sieg für die europäische Demokratie“. Das hartnäckige Festhalten seiner Genossin Edith Cresson an ihrem Brüsseler Amt erklärte er freilich nicht.

Madrid jubelte über seine beiden Kommissare, die der Bericht entgegen vorausgegangener Gerüchte vom Verdacht der Vetternwirtschaft entlastet hatte. Und auch durch Italien mit seinen beiden laut Bericht tadellosen KommissarInnen ging ein Aufatmen – verbunden mit einer gewissen Genugtuung darüber, daß ausgerechnet die Deutsche Monika Wulf-Mathies, Kommissarin aus dem Land der Saubermänner und -frauen, der Günstlingswirtschaft bezichtigt wird. Der Graben zwischen dem vermeintlich sauberen Norden und dem vermeintlich bestechlichen Süden Europas schloß sich gestern trotz dieser Erkenntnis der bis weit in den Norden reichenden Fehlbarkeit nicht. Zu weit verbreitet ist in Süd- und Westeuropa die Ansicht, daß es sich bei der Antikorruptionskampagne in der EU, mitten in der deutschen Ratspräsidentschaft, um ein Ablenkungsmanöver von den Bonn- Berliner Sparvorhaben handele. Zu stark ist die Erinnerung daran, wie Deutschland nicht nur den Standort Frankfurt (Main), sondern auch den Kandidaten Wim Duisenberg als ersten Präsidenten der Europäischen Zentralbank durchsetzte. Und zu tief ist der Eindruck, daß gerade Deutschland die schnelle Erweiterung der EU in Richtung Osten seit Jahren betreibt, die im Südwesten vielfach als Konkurrenz empfunden wird.

Darüber, daß die Konzentration auf die Einführung des Euro und die Vorbereitung der Erweiterung der EU auf eine noch größere und schwerer kontrollierbare Gruppe von Ländern die in der EU seit Jahren immer neu diskutierte „institutionelle Reform“ bislang verhindert haben, herrscht vielerorts Einigkeit.

Der Knall von Brüssel wird neue Impulse auslösen. Mag sein, daß nun – da die Vetternwirtschaft der Kommission amtlich ist – noch weniger EuropäerInnen am 13. Juni zu den Wahlurnen für das Europaparlament gehen. Mag auch sein, daß die ausgesprochenen Anti-EU-Parteien – auf der linken, aber auch auf der extrem rechten Seite – im Juni besser abschneiden werden als bislang absehbar. Aber ungeachtet dieses Wahlgangs werden sich die EuropäerInnen künftig stärker für ihre KommissarInnen interessieren. Jene 20 von den nationalen Regierungen nach Brüssel entsandten SpitzenbeamtInnen, bei denen es sich vielfach um PolitikerInnen handelt, die daheim ausgedient haben und die wegbefördert werden. Personell wird sich das nicht unbedingt sofort niederschlagen. Klar schien gestern allerdings, daß Jacques Santer, der christdemokratische Technokrat aus dem kleinen Luxemburg, der den französischen Sozialisten und europäischen Vordenker Jacques Delors aus Frankreich 1994 als Kommissionspräsident abgelöst hatte, nicht mehr haltbar ist. Santer hatte schon zu Beginn seiner Amtszeit nur eine knappe Mehrheit von 22 Stimmen im Europaparlament bekommen und seither dort bereits zwei Mißtrauensvoten nur knapp überstanden. Er galt von vornherein als Kompromißkandidat. Und war und blieb ein schwacher Präsident, den der sozialdemokratische Europaparlamentarier Detlef Samland gestern noch einmal als „Weichei“ bezeichnete.

Nicht mehr haltbar ist auch die französische Sozialistin und Forschungskommissarin Cresson. Nicht nur wegen der Vetternwirtschaft mit einem Zahnarzt und nicht nur wegen mangelnder Kompetenz, sondern auch, weil ihre Hartnäckigkeit letztlich die ganze Kommission unter den Zugzwang des kollektiven Rücktritts gesetzt hat. Andere wollen in Brüssel bleiben. Sieben zurückgetretene KomissarInnen machten bereits in der Nacht zu Dienstag klar, daß sie lediglich ein taktisches Manöver gemacht hatten. Sie warten jetzt auf eine neue Bestellung nach Brüssel.

In den europäischen Hauptstädten, die über die künftige Zusammensetzung der EU-Kommission zu befinden haben, erscholl gleichzeitig der Ruf nach einem starken Mann für die EU-Präsidenz. Italien hofft nun, Ex-Premierminister Romano Prodi als Retter nach Brüssel befördern zu können. Der Deutsche Oskar Lafontaine, der seinerseits mal Interesse an der EU-Präsidenz signalisiert hatte, erscheint den ItalienerInnen nach seinem Scheitern als Bonner Finanzminister weniger gefährlich. Von London aus suchte Tony Blair gestern nach einem „richtigen Schwergewicht“ als Santer-Nachfolger. Gleichzeitig postulierte er eine „große Reform der Kommission“ und kündigte paradoxerweise an, daß er die beiden eben zurückgetretenen britischen Kommissare, Neil Kinnock und Leon Brittan, erneut nach Brüssel schicken wolle.

In Paris träumte der Spitzenkandidat der französischen Grünen, Daniel Cohn-Bendit, für eine Übergangsperiode von zwei Schwergewichten an der Spitze der EU-Kommission: Helmut Kohl und Felipe González. Und der Kanzler Gerhard Schröder, der in diesen Tagen von einem Rücktritt (national) zum nächsten (europäisch) hastet, zitierte einen Textbaustein, den er sich erst kürzlich zurechtgelegt hat: „Nicht dramatisieren.“ Dorothea Hahn

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