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Wie Bonn stets das Gute will und doch das Böse schafft

Oskar Lafontaines Rücktritt wirft die Frage nach seinen Beweggründen auf – und nach den Bedingungen, unter denen in Deutschland Politik gemacht wird  ■ Von Bettina Gaus

Bonn (taz) – Warum verlieren eigentlich gerade Politiker wie Oskar Lafontaine, die früher besondere Lebenslust ausstrahlten und die Geselligkeit pflegten, so oft ihr Gefühl für menschliche Rücksichtnahme, höfliche Umgangsformen und eine klare Sprache, wenn sie in Bonn erst einmal in Amt und Würden gekommen sind? Es spricht von vornehmer Zurückhaltung, wenn der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel die Umstände des Rücktritts von Lafontaine als „fragwürdigen Stil“ bezeichnet. Sie sind weit mehr als das. Sie zeugen von einer erschreckenden Egozentrik, die nur noch sich selbst als Maßstab kennt, und von weltenferner Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen, die eigene Entscheidungen für andere nach sich ziehen.

Was mag in den Mitarbeitern von Oskar Lafontaine vorgegangen sein, als sie ihren ehemaligen Chef zum ersten Mal nach seinem fluchtartigen Rückzug aus Bonn wieder zu Gesicht bekamen? Auch sie hatten von nichts gewußt. Etlichen droht der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Das kann kein Grund für ein Verbleiben Lafontaines im Amt sein – aber doch wohl dafür, die engsten Mitstreiter in Kenntnis zu setzen. Der Finanzminister war nach Diktat verreist und überließ es anderen, Erklärungen abzugeben, die diese selbst nicht hatten.

Es läßt sich darüber streiten, in welchem Umfang ein Politiker denen verpflichtet ist, die ihn gewählt und unterstützt haben. Die Pflicht, auf Abhängige Rücksicht zu nehmen, steht jedoch außer Diskussion. Aber hatte Oskar Lafontaine denn überhaupt eine andere Wahl? Sein Verhalten wirft die Frage nach seinen Beweggründen auf – und nach den Bedingungen, unter denen in Deutschland Politik gemacht wird.

Hätte der Minister, wie es der Anstand gebietet, all jenen die Beweggründe für seinen Schritt erläutert, die darauf aus persönlichen Gründen einen Anspruch hatten: Er hätte ebensogut gleich die Presse dazu bitten können. Wenig oder nichts von dem, was in Bonn in kleiner Runde erörtert wird, bleibt vertraulich. Die Belagerung des Hauses in Saarbrücken durch Kamerateams hat kaum Wissenswertes zutage gefördert. Aber sie hat ein Schlaglicht auf das Verschwinden ehemals respektierter Grenzen der Berichterstattung geworfen. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, was Lafontaine noch von Bonn aus am Telefon zu seiner Frau gesagt haben dürfte: „Christa, sorg für Vorräte. Die nächsten Tage kommen wir nicht mehr raus.“

Politiker machen für den Verfall der Sitten gern beutehungrige Sensationsreporter verantwortlich. Eine erfrischend schlichte Schuldzuweisung. Wortlautprotokolle aus dem Kabinett kann nur drucken, wer sie zugesteckt bekommt. Medien und Politiker benutzen sich gegenseitig, aber nur die eine Seite kann aus dem Spiel aussteigen. Ein Minister, der keine Indiskretionen begeht, hat deswegen noch nicht zwangsläufig eine schlechte Presse. Ein Korrespondent, der ein ihm zugespieltes vertrauliches Papier nicht veröffentlicht, darf es am nächsten Tag bei der Konkurrenz lesen. Das ist seinem beruflichen Werdegang nicht eben förderlich.

„Unter der Wächterfunktion der Medien hatten wir bisher etwas anderes verstanden als das Belagern von Hauseingängen“, schrieb Wolfgang Schäuble, nachdem er und andere Teilnehmer eines Gesprächs heimlich durch eine Hintertür vor Journalisten geflohen waren. Recht hat er. Auf die Möglichkeiten der Gestaltung von Politik sind die Auswirkungen der medialen Omnipräsenz verheerend. Wenn Minister jeden ersten Entwurf ihres Hauses zu einem beliebigen Sachthema am nächsten Tag in Leitartikeln begutachtet finden, dann sind sie gut beraten, ergebnisoffenes Nachdenken in ihren Ämtern so weit wie möglich zu unterbinden.

Indiskretionen sorgen nicht für Transparenz der politischen Entscheidungsprozesse, sondern steigern lediglich die Bedeutung von Küchenkabinetten und Seilschaften. Wenigstens auf die alten Kumpel wird man doch noch bauen dürfen. Zur Hölle mit Legitimität und fachlicher Qualifikation. Indiskretionen befördern aber auch virtuelle, selbstreferentielle Diskussionen, wie sie in Bonn so gern geführt werden. Der Triumph der Medien, eine vertrauliche Information zu haben, läßt oft die Frage aus dem Blickfeld geraten, ob diese Information eigentlich irgend etwas mit der politischen Realität zu tun hat.

Politiker sind in der Skala des öffentlichen Ansehens ganz tief nach unten gerutscht. Das ist kein Zufall. Bonn hinterläßt Spuren im Wesen, und diese Spuren sind selten ein hübscher Anblick. Eigenschaften wie Offenherzigkeit, Ehrlichkeit und die Fähigkeit, anderen zu vertrauen, gelten andernorts als menschliche Qualitäten. Am Regierungssitz sind sie zu Synonymen für Naivität geworden. Manche scheinen der professionellen Deformation leichter entkommen zu können als andere: Es hilft offenbar, vom Typ her ein eher verschlossener Mensch zu sein, um sich auch von den Bonner Gepflogenheiten abschotten und somit innerhalb der eigenen Grenzen kommunikationsfähig bleiben zu können. Auch gelingt es Frauen häufiger als Männern, sich einen Rest natürlicher Unbefangenheit zu bewahren – vielleicht deshalb, weil sie von ihrer Umgebung im allgemeinen nicht ausschließlich auf den homo politicus reduziert werden.

Alle Leute bewegen sich gelegentlich in einem Netz von Hierarchien und wechselseitigen Abhängigkeiten. Für Bonner Politiker ist das der Dauerzustand, selbst beim abendlichen Bier. Das Private ist öffentlich. Familie und vertraute Freunde sind meist weit weg. Abgeordnete und Minister pflegen fast ausschließlich Umgang mit anderen, die etwas von ihnen wollen und von denen sie etwas wollen: Informationen, politische Unterstützung, die Durchsetzung eines gemeinsamen Anliegens, Stärkung der eigenen Hausmacht, Schwächung der Hausmacht anderer. Es nimmt nicht wunder, daß alle sich hier gegenseitig unentwegt belauern.

Das Regierungsviertel besteht aus einem System kommunizierender Röhren, das Neulinge mühsam erforschen müssen, wollen sie länger bleiben. Es fängt bei der Sprache an und endet in der Grauzone dessen, was nicht gesagt wird. Da gibt einer etwas vertraulich preis und wünscht sich nichts sehnlicher als die Veröffentlichung. Später will er behaupten können, er sei an der Indiskretion nicht schuld. Ein anderer teilt längst bekannte Tatsachen unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit und hofft, so die Veröffentlichung verhindern zu können. Es gibt offene Hintergrundgespräche und vertrauliche Hintergrundkreise, Strömungstreffen und die bilaterale Klärung offener Fragen, klare Absprachen und deren ebenso klaren Bruch – und ein unentwirrbares Geflecht wechselseitiger Gefälligkeiten. Herrschaftswissen ist der Schlüssel, der in Bonn Türen öffnet. Das wiederum schafft Abhängigkeiten.

Meinungsfreude und Lust an der streitbaren Diskussion sind Voraussetzungen, um die Politik zum Beruf machen zu wollen. Ironischerweise bleiben sie als erste auf der Strecke, will jemand in Bonn die Karriereleiter erklimmen. Wer Ärger in den eigenen Reihen vermeiden will, darf sich nicht festlegen lassen, und ihm darf nichts nachzuweisen sein. Je höher jemand steigt, desto größer wird sein Mißtrauen und desto verklausulierter werden seine Formulierungen. Gleichzeitig aber werden auch die Interpretationen seiner Äußerungen immer filigraner. Das macht ihn noch vorsichtiger, die Interpretationen noch kühner und den Nutzwert für die Öffentlichkeit immer geringer. Um ihn wenigstens etwas zu steigern, sind die Medien auf verläßliche Gewährsleute angewiesen, die den politischen Willen der Oberen übersetzen. Diskret, versteht sich.

Vielleicht ist an dem alten Klischee doch etwas dran, daß Politik den Charakter verdirbt. Das wäre betrüblich für die Betroffenen und ihre Angehörigen, fatal für den Rest der Republik. Aber vielleicht hat ja auch Oskar Lafontaine vor seiner Abreise aus Bonn doch heimlich mit ein paar Leuten gesprochen und die haben wirklich dichtgehalten. Wir werden es erfahren. Vertraulich. Es ist nur eine Frage der Zeit.

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