piwik no script img

Schall und Rauch

Ob Love Parade, Deutschlandfest oder Luxemburg-Liebknecht-Demo: In Berlin verzeichnen Massenveranstaltungen Besucherzuwächse wie nirgends in Deutschland. Kein Wunder: Die Stadt bietet beste Bedingungen fürs organisierte Herumlaufen  ■ Von Jürgen Kiontke

Manche Dinge werden nur in Berlin richtig groß. 150 Menschen zappeln im Sommer 1988 hinter einem Lautsprecherwagen durch Berlin. Aus den Boxen dröhnt textloser, baßlastiger Techno. Offensichtlich haben die Teilnehmer nichts anderes im Sinn, als öffentlich zu tanzen. Die Love Parade ist geboren. Jahre später ist der am zweiten Juliwochenende stattfindende Zug zu einer der weltweit größten Massenversammlungen geworden.

Ein Großereignis, das sich erst nach und nach mit Sinn auflädt: sei es, daß 1995 ihr Organisator Dr. Motte antisemitische Töne anschlägt – nachher will er es nicht so gemeint haben –, sei es, daß sich konservative Senatsmitglieder als Fans outen und den Technoumzug zum Kennzeichen des vereinigten Großberlins und damit Deutschlands verklären. Aber warum ist der Umzug, den die Organisatoren Demonstration nennen und mit angeblich politischen Slogans à la „We are one family“ belegen, so groß geworden? Oder ist die Begeisterung vielleicht gar kein spezifisches Kennzeichen der Love Parade? Ein Blick auf andere Massenveranstaltungen in Berlin offenbart verblüffende Gemeinsamkeiten.

Ein von halboffizieller Stelle initiierter Umzug, der ebenfalls ordentlichen Zuwachs verzeichnen kann, ist das unter der Leitung des ehemaligen ZDF-Unterhaltungschefs Wolfgang Penk inszenierte, seit 1993 stattfindende Deutschlandfest am 3. Oktober, bei dem sich die sechzehn Bundesländer mit Tanz- und Trachtengruppen präsentieren und das mittlerweile Besucherzahlen um die 300.000 verzeichnet – ein „Familienfest“ (Penk) eben. Obwohl die Bundesregierung betont, die Familie sei die Keimzelle des Staatswesens, ist wie bei der Love Parade das Spiel mit einer gewissen planvollen Revolte wichtig: Das Deutschlandfest richtet sich gegen die wenig volksnahen Feiern „mit Beethoven“ in den Ländern. Penk beklagt, man bekomme kaum offizielle Unterstützung für das Fest – ein Sachverhalt, den auch die Macher der Love Parade für sich reklamieren.

So unterschiedlich Deutschlandfest und Love Parade sind, beziehen sie doch ihren Zulauf aus der gleichen Grundstruktur: der Begrenzung des Diffusen in der Partyfamilie. Der Deutsche kann sein hausgemachtes Protestpotential in der Gemeinschaft ausleben, dann ist es schon okay. So weit ist es da nicht bis zu den explizit politischen Kundgebungen wie der größten regelmäßigen Versammlung der Linken in Deutschland, der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration (LL-Demo) am zweiten Januarwochenende.

Zu DDR-Zeiten offizieller Gedenktag, wurden in den achtziger Jahren während des Marsches systemkritische Stimmen laut im Sinne des Luxemburg-Satzes: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ – ein äußerst flexibel interpretierbarer Ausspruch: War dieser Gedanke bis 1989 gegen die DDR gerichtet, galt er später dem aus Westdeutschland importierten Kapitalismus und seinen politischen Vertretern.

„Da ging man mit der ganzen Familie hin“, berichten Teilnehmer. Der Einbruch nach der Wende war nur von kurzer Dauer. Weil die anderen früheren Ostberliner Großtreffen (1. Mai, „Gedenktag zu Ehren der Opfer von Faschismus und Militarismus“) weggefallen waren, die neben ihrer offiziellen Funktion vor allem Möglichkeiten des Zusammenkommens der „linken Verwandtschaft“ boten, etablierte sich die traditionell mit Oppositions-Chic ausgestattete LL-Demo erneut als der Tag, an dem unterschiedliche Lager zusammenfanden.

Die Teilnehmerzahl stieg zwischen 1991 und 1998 von 30.000 auf über 100.000. Die isolierten Zitate der Luxemburg boten sich als Grundmuster gesellschaftlicher Anklage fürs linke Spektrum an. Dabei begrüßen nicht wenige Besucher, daß die Demoleitung es untersagt, Transparente mit konkret politischen Forderungen auf den Friedhof mitzunehmen. Die Fahne muß draußen bleiben, der Mythos „Karl und Rosa“ findet seine kollektive Form: Er gilt für „alle“, in diesem Fall eingegrenzt für alle Linken. Dazu reicht ein traditioneller Strauß roter Nelken. Obwohl es eine politische Demonstration gibt, ziehen viele das „stille Gedenken“ vor. „Die ganze Familie war da“, titelte 1996 eine linke Zeitung über die Demo, der die Staatsmacht – da können Love Parade und Deutschlandfest wirklich nicht so ganz mithalten – zuweilen konkret an die Wäsche will.

Zusammen kämpfen, tanzen, mampfen: In Berlins fortschrittlichen Kräften und der neuen Berliner Kollektivität vermischen sich drei Topoi, deren stilistische Anwendung bei den genannten Veranstaltungen jeweils evident ist, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung: 1. „Familie“: Der Mangel an dezidierten Forderungen führt zu ausgeweiteten Möglichkeiten der Besucher. Eine Veranstaltung ist okay, wenn die anderen da sind. Prinzip: Sinn für alle. Familie – oder besser: family – bezieht ihre Attraktivität aus einem minimalen Sinnstiftungsmodell. 2. „Widerstand“: Die Veranstaltungen operieren mit oppositionellem Gestus, im stillen Gedenken gegen herrschende Verhältnisse wie in der Forderung „Bratwurst gegen Beethoven“ oder „Spaß für alle“ gegen die Spaßkiller. 3. „Bewegung“: Der Umzug als Fortschreiten des Kollektivs – man will nicht auf der Stelle treten. Entgrenzung und Begrenzung der Massen halten sich die Waage, die Ränder der (Selbst-)Inszenierung können diffus sein. Die festen Koordinaten können den familiären Ausflugscharakter unterstützen.

Auch bei „Rosa und Karl“? Das von radikalen (und jüngeren) Demonstranten ausgemachte mangelnde Interesse an militanten Auseinandersetzungen mit der zahlreich vorhandenen Polizei, auch im Vorfeld viel diskutiert, wird von diesen damit erklärt, daß bei den Älteren eben „die Knochen nicht mehr so schnell zusammenwachsen wie sie zusammengehören“ (ein Teilnehmer).

Fragen wir also die Polizei, was Berlin an Bigness bereitstellt. Dem Berliner sei nun mal eine gewisse Radikalität eigen, findet Landespolizei-Hauptkommissar Matthias Reuther, die „flinke Schnauze“, mit der auch im Alltag über Politik gestritten werde. Die Stadt verfüge über eine fungible Infrastruktur. Und es gebe die Möglichkeit, „sich rund um die Uhr in Szenekneipen zu treffen“ – die Sperrstunde fehlt. Berlin habe mehr Öffentlichkeit, mehr Medien, mehr Multiplikatoren als jede andere deutsche Stadt, verfüge zudem über eine aus den zwanziger Jahren tradierte, starke Besetzung des öffentlichen Raums.

Für Berlin hat es, dank seiner protestantischen Prägung, nie zu einem die Emotionen bindenden Karnevalsumzug gereicht: Das Faschingsritual konnte sich nie durchsetzen. Da wäre der Bewegungsdrang des Stadtbewohners, dem es schon mal infolge jahrzehntelanger Kessellage zu eng in der Wohnung werden kann: Da weite Stadtgebiete mit den vierstöckigen Häuserzeilen bebaut sind, es andererseits aber große, öffentliche Plätze gibt, sind die Anwohner gern bereit, ihre Behausung zu verlassen. Und an weite Strecken ist man in Berlin schließlich gewöhnt.

In diesem Hin und Her gewährten die Umzüge eine Besetzung des öffentlichen Raumes, sagt die Theaterwissenschaftlerin Marina Dalügge, „gerade durch den Mangel konkreter politischer Ideen: Zuschauer und Teilnehmer sind nicht eindeutig zu trennen.“ Die Love Parade verfüge nicht – wie etwa die nationalsozialistischen Masseninszenierungen – über die totale Choreographie und Marschordnung. Trotz Zurückdrängung des öffentlichen Lebens in die Privatisierung erhalte sich „das Soziale als Grundbedürfnis“.

Mit Situationen, denen kein konkreter Zweck als das Zusammensein zugeschrieben werden könne, hätten Kritiker wie Befürworter ihre Probleme. Die einen verdammten die Love Parade in Grund und Boden, die anderen wären gern dabei, ohne einen Bezug zur Clubkultur zu haben. „Es geht einfach um das Vergnügen, öffentlich zu sein.“ Eine Berliner Großveranstaltung wirkt auch für Auswärtige attraktiv, bietet sie doch Anlaß, in die mit legendärem Ruf ausgestattete Stadt zu reisen. „Wir fahren nach Berlin“ gilt nicht nur als Slogan unter den Fans der Fußballclubs, die die Qualifikation zum Endspiel des DFB-Pokals geschafft haben. Das Spiel findet jedes Jahr im von den Nationalsozialisten erbauten Olympiastadion statt.

Genauso wie die Fanmassen desorientiert und betrunken auf dem Kurfürstendamm stehen und nicht wissen, wie sie ins Stadion gelangen sollen, ergeht es vielen auswärtigen Teilnehmern der Love Parade (“Das hatte ich mir anders vorgestellt“). Allerdings folgt der Deterritorialisierung des Love-Parade-Besuchers in seiner Doppelfunktion als Zuschauer und als Akteur die Begrenzung in der Rekonstruktion einer Familienstruktur, der party-family. Wer mitmachen darf (“alle“), wer nicht (was nicht „alle“ ist), das ist nicht ganz fest, aber doch umrissen.

„Man geht hin, weil die anderen da sind“, glaubt der Kunsthistoriker Rainer Stommer. Um was zu machen, weil man das Gefühl hat, man würde sonst etwas verpassen, zunächst mehr aus Integrationsmotiven. Wichtig sei „das Ausbrechen aus dem reinen Konsumverhalten“. Das habe mehr mit Karneval als mit Faschismus zu tun, der an diffusen Rändern nicht interessiert sei.

Eine ähnliche Wirkungsformel des spontanen Elements von Massenzusammenkünften findet man bei linken Theoretikern: Georg Lukács attestierte dem In-der-Masse-Sein per se etwas Demokratisches wie auch heute in bezug auf die Love Parade geäußert (“Die Masse ist immer unschuldig“) – ich gehe hin, damit ich auch da war.

Vor allzu positiven Assoziationen möge man sich trotzdem hüten. Schließlich ist das Pogrom auch eine Massenveranstaltung. Auch wenn's soweit nicht gehen muß: Die „Berliner Republik“ ist stolz auf ihre Stadtfolklore, schon rein ideologisch: Bewegung, Widerstände überwinden und dabei die eigene Eingrenzung in tradierten Strukturen betreiben – das scheinen die Säulen und Zuwachsgaranten der säkularen Rituale zu sein: großes Ding statt großer Worte, eine schöne Projektionsfläche für Identitätsfindungen aller Art.

Das ganze Land befindet sich schließlich im Umzug von der alten Republik in die neue. Der dürfte allerdings, ebenso wie manche der beschriebenen Veranstaltungen, die Suche nach dem altem Glück bedeuten.

Jürgen Kiontke, 34, ist freier Autor und Mitherausgeber der Berliner Wochenzeitung „Jungle World“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen