piwik no script img

Gutachten oder Schlechtachten?

Die Aussagepsychologie, die in Mißbrauchsprozessen eingesetzt wird, ist nach den Mainzer Massenverfahren ins Zwielicht geraten. Nun verhandelt der Bundesgerichtshof über den Beweiswert der Gutachten  ■   Von Christian Rath

Karlsruhe (taz) – Wenn vor Gericht Aussage gegen Aussage steht, werden oft psychologische Glaubwürdigkeitsgutachten angeordnet. Vor allem in Fällen von sexuellem Kindesmißbrauch kommen sie zur Anwendung. Ob solche Gutachten aber genügend wissenschaftlichen Beweiswert haben, ist nach den Massenverfahren von Mainz mit ihrem „Krieg der Gutachter“ zweifelhaft geworden. Jetzt verhandelt der Bundesgerichtshof (BGH) über den Beweiswert solcher Expertisen.

Normalerweise gehört es zu den Aufgaben des Gerichts, die Glaubwürdigkeit von Zeugen und Angeklagten zu beurteilen. Bei vermeintlich mißbrauchten Kindern fühlen sich viele Gerichte aber überfordert und beauftragen externe Sachverständige.

Die Aussage des Kindes ist in derartigen Fällen aber auch von zentraler Bedeutung. Ein medizinisch verläßlicher Nachweis gelingt nämlich nur selten, etwa bei einer Schwangerschaft oder wenn Spermaspuren gefunden werden. Verletzungen im Genitalbereich heilen dagegen oft schnell wieder ab und sind bei länger zurückliegenden Vorfällen meist nicht mehr nachweisbar.

Die Aussagepsychologie beruht auf der Annahme, daß sich Äußerungen über erfundene Erlebnisse von wahrheitsgetreuen Berichten unterscheiden lassen. So seien wahrhafte Berichte in der Tendenz detailreicher und ausgeschmückter. Im Hinblick auf solche „Realkennzeichen“ werden in entsprechenden Gutachten deshalb die Aussagen überprüft.

Auch in dem Fall, den der BGH jetzt verhandelt, war ein mißbrauchtes Mädchen psychologisch untersucht worden. Die Gutachterin hielt die Aussagen der 14jährigen, die ihren Adoptivvater des jahrelangen Mißbrauchs beschuldigte, für glaubhaft. Der Mann wurde vom Landgericht Ansbach zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, ging aber in Revision, weil das Gutachten mangelhaft gewesen sei.

Der BGH hatte auf einen derartigen Fall geradezu gewartet. Schon im letzten Herbst, als der Beweiswert von Lügendetektoren verneint wurde, hatte das Gericht angekündigt, demnächst auch die Glaubwürdigkeitsgutachten unter die Lupe zu nehmen. Gestern führte das oberste deutsche Strafgericht eine mehrstündige Sachverständigen-Anhörung durch.

Der Berliner Psychologieprofessor Max Steller, der die Aussagepsychologie entscheidend mit entwickelt hat, verteidigte natürlich seinen Ansatz. Schwerer wog daher das positive Urteil seines Heidelberger Kollegen Klaus Fiedler, der vor einigen Monaten den Lügendetektor noch in Bausch und Bogen verdammt hatte.

„Der Zugewinn an Erkenntnissen kann beträchtlich sein“, betonte Fiedler. Damit dürfte einer weiteren Anwendung solcher Gutachten nichts mehr im Wege stehen. Diskutiert wurde in Karlsruhe dann vor allem über die Frage, wie die Qualität der Gutachten gesichert werden kann und wie mit beeinflußten Kindern umgegangen wird. Für Max Steller ist das Hauptproblem, daß viele Gutachter seine Methode nicht richtig anwenden.

„Da möchte ich oft lieber von ,Schlechtachten‘ sprechen“, beklagte sich Steller. Klaus Fiedler forderte daher, daß Minimalstandards für solche Gutachten aufgestellt werden sollten.

„Nicht sinnvoll anwendbar“ ist die Aussagepsychologie bei suggestiv beeinflußten Kindern, so Max Steller. Wenn Kinder nur noch „Pseudoerinnerungen“ wiedergeben, die aber eigentlich von Erwachsenen stammen, versage seine Methode. Ein Gutachter müsse dann vielmehr die Entstehungsgeschichte der Aussage rekonstruieren.

Steller und Fiedler äußerten sich beide äußerst negativ über die „Aufdeckungsarbeit“ von Kinderschutzgruppen wie „Wildwasser“, die auch zu den Skandalverfahren in Mainz geführt hatte. Wenn auf derart „suggestive“ Weise mit Kindern gearbeitet wurde, seien ihre Aussagen hinterher nicht mehr brauchbar, so Steller. Bei den Mainzer Verfahren „Worms I“, „II“ und „III“ wurden am Ende alle 24 Angeklagten freigesprochen.

Das Urteil wird vermutlich heute verkündet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen