piwik no script img

Angespanntes Warten auf ein Lebenszeichen

■ Das Erdbeben in der Türkei beherrschte gestern das Leben auf der Oranienstraße

Im Tele-Café in der Oranienstraße ist keine einzige Kabine frei. Zehn Leute stehen in dem kleinen Kreuzberger Laden und warten angespannt. Mindestens 2.000 KundInnen will Özlem Turgut, Mitarbeiterin des Tele-Cafés, im Laufe des gestrigen Tages gezählt haben. Am Tag nach dem schweren Erdbeben wollten sie alle in die Türkei telefonieren und hören, ob bei ihren Verwandten und Freunden alles in Ordnung ist.

„Ich bin sehr mitgenommen“, sagt Turgut. „Auch wenn meine Verwandten zum Glück wohlauf sind, teile ich hier die Trauer und den Schmerz derer, die noch kein Lebenszeichen von Verwandten erhalten konnten.“ Turguts Blick klebt an einer Frau, die auf die nächste freie Kabine wartet. Verzweiflung und Trauer stehen ihr ins Gesicht geschrieben. „Sie bangt um ihre Familie in Bursa und hat bereits gestern den ganzen Tag hier verbracht“, sagt Turgut. „So ist sie wenigstens nicht alleine mit ihrem Kummer.“

Im türkischen Reisebüro gegenüber ist unterdessen nicht viel los. „Es gibt seit gestern zwar zahlreiche Anfragen nach Flügen in die Türkei, doch wir können den Leuten kaum weiterhelfen“, beklagt Canan Gömeç. „Hinflüge gibt es zur Genüge, doch mit Rückflügen können wir kaum dienen. Es ist Ferienzeit und die Kapazitäten sind ausgelastet“, so Gömeç. Sie selbst glaubt, dass das Ausmaß der Katastrophe auch an der schlechten Bauweise vieler Häuser in der Türkei liegt.

Trotz der geringen Aussichten versuchen viele Türken, direkt am Flughafen ein Ticket ins Erdbebengebiet zu ergattern. Die türkische Fluglinie Turkish Airlines will aufgrund der hohen Nachfrage Sonderflüge von Berlin in die Türkei einrichten.

Ein paar Häuser weiter sitzen sechs türkische Männer in einem Imbiss und verfolgen aufmerksam die türkischen Fernsehdokumentationen. Ein Moderator des türkischen Nachrichtensenders NTV ruft unter Tränen Landsmänner im In- und Ausland dazu auf, so schnell wie möglich ins Katastrophengebiet zu kommen. „Wir brauchen jede Hilfe“, so der Moderator. „Mit bloßen Händen versuchen wir hier, Verschütette zu retten. Jede Hand, die mit anpackt, zählt.“

Die Männer im Imbiss reden von dem Moderator wie von einem Bekannten. „Der arme Ozan“, sagt ein älterer Türke. „Er vermisst immer noch seine Eltern.“

Ein Handy klingelt, die Männer schrecken auf. Für einen Moment ist das Fernsehen unwichtig geworden. Erwartungsvolle Gesichter, während Sahim Ersan, der Besitzer des Imbisses, ans Telefon geht.

Die Spannung in den Gesichtern schlägt schnell in den Ausdruck von Resignation um, als Ersan mit einem traurigen Blick zu verstehen gibt, dass auch dies nicht der heiß ersehnte Anruf aus der Heimat ist. „Ich rechne immer mehr damit, in den nächsten Tagen in die Türkei zu reisen“, sagt Ersan später. „Ich kann die Ungewissheit über den Verbleib meiner Familie nicht mehr länger ertragen.“

Auch in einem Zeitungsladen kurz vor dem Moritzplatz stehen vier Männer und tauschen Informationen über die Lage in der Türkei aus. Angestrengte Augen haften auch hier auf dem Fernseher, der hinter dem Tresen steht. Während Birol Kadakal, Besitzer des Kiosks, den Bildern auf dem Bildschirm folgt, versorgt sich einer seiner Kunden selbst mit einer Schachtel Zigaretten. Bald haben sich alle Männer hinter dem Tresen versammelt, weil man hier das Fernsehprogramm besser sehen kann.

„Habt ihr schon einen Miltärhubschrauber gesehen?“, fragt Kadakal in die Runde. „Ich verstehe nicht, wo deren Einsatz bleibt.“ „Kann ich dir sagen“, antwortet ein Kunde. „Die nutzen die Gunst der Stunde, um ungestört im Osten gegen die PKK vorgehen zu können. Ohne die Hilfe aus dem Ausland wäre alles noch viel, viel schlimmer.“

„Es kommt auch noch schlimmer“, meint ein anderer Mann. Inzwischen seien die Lebensmittelpreise in die Höhe geschnellt und eine Flasche Wasser werde bereits das Siebenfache kosten wie vor dem Erdbeben. „Habt ihr noch nicht gehört, dass die Überlebenden beginnen, Leichen zu plündern?“, fügt ein weiterer Mann hinzu. Die anderen Männer nicken schweigend.

Songül Çetinkaya

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen