: Migrationsdruck und mangelndes Gefahrenbewusstsein
■ Machenschaften der Baumafia allein erklären nicht das Ausmaß der Zerstörung
Der Sündenbock für die Erdbebenkatastrophe im Westen der Türkei heißt Veli Göcer. Der Mann hat sein Geld mit dem Bau von Feriensiedlungen verdient und dabei offenbar in krimineller Weise abgesahnt. 90 Prozent aller von seiner Firma erbauten Häuser bei Yalova sind eingestürzt. „Da wurde Sand statt Zement benutzt“, sagen Experten. Veli Göcer ist auf der Flucht. Überlebende aus den von ihm erbauten Häusern hätten ihn fast gelyncht.
Seit sich das Ausmaß der Katastrophe mehr und mehr offenbarte, ist die am häufigsten geäußerte Erklärung für die Dimension der Zerstörung der Verweis auf die Machenschaften der Baumafia. Schlagzeilen wie: „Schlampig gebaut, das Erdbeben hat die faulen Zähne gezogen“, beschreiben Offensichtliches. Wenn in Avcilar, dem in Istanbul vom Beben am stärksten betroffenen Bezirk, aus einer Häuserreihe drei Bauten zusammenfallen, der Rest nahezu unversehrt bleibt, gibt es keine andere Erklärung als Pfusch am Bau.
Doch kriminelle Machenschaften allein erklären das Ausmaß der Katastrophe keineswegs. Wenn jetzt über städtebaulichen Wildwuchs, mangelnde Bebauungspläne, schlampige Bauaufsicht und Vetternwirtschaft geklagt wird, beschreibt das zwar ein Phänomen, geht aber am eigentlichen Problem vorbei. Die Türkei hat in den letzten 30 Jahren ein enormes Bevölkerungswachstum und eine riesige inländische Migration von Ost nach West erlebt. Die Bevölkerung wuchs seit 1960 von 25 auf 60 Millionen Menschen, und Istanbul explodierte förmlich von 2,5 Millionen 1962 auf rund 15 Millionen 1999. Eine solche Bevölkerungswanderung und ein solches Wachstum sind schwerlich mit geregelten Bebauungsplänen nach deutschem Muster zu bewältigen. Es wurde schnell, billig und „unbürokratisch“ gebaut, und daran hatten nicht zuletzt die zukünftigen Käufer oder Mieter der Häuser ein großes Interesse. Dazu kam ein mangelndes Bewusstsein für die vorhandene Gefahr. Warnungen, die es immer wieder gegeben hat, wurden nicht ernst genommen. Erdbeben fanden im unterentwickelten Osten des Landes statt, aber nicht im reichen Westen.
Baugenehmigungen wurden bis auf wenige exponierte Bereiche wie die Grundstücke direkt am Bosporus von den lokalen Stadtverwaltungen erteilt. Diese Regelung ist gestern suspendiert worden. Wenn die Folgen der Katastrophe bewältigt sind, wenn die Seuchengefahr eingedämmt und Notunterkünfte für die rund 200.000 Obdachlosen errichtet sind, wird man sich der „Baumafia“ zuwenden. Nach dem Erdbeben in Erzincan 1992, bei dem über 6.000 Menschen starben, hat eine Arbeitsgruppe der Weltbank mit türkischen Experten das Baurecht durchforstet. Das Ergebnis war im Wesentlichen die Aufforderung, die geltenden Gesetze konsequenter anzuwenden. Das wird nach dieser Katastrophe sicher geschehen, doch damit in Ballungsgebieten wie Istanbul erdbebensicher gebaut wird, braucht es mehr als eine bessere Bauaufsicht.
Jürgen Gottschlich, Istanbul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen