■ Auf einzigartige Weise haben die Frontleute der Sozialdemokratie binnen eines Jahres den Kredit der neuen Regierung verspielt: Das Problem heißt Schröder
Kennen Sie den? Ein Skorpion kommt zu einem Fluss. Dort trifft er einen Frosch. „Kannst du mich an die andere Seite des Flusses tragen?“, fragt der Skorpion den Frosch. „Du wirst mich stechen“, sagt der. „Nein, denn dann ertrinken wir beide“, erwidert der Skorpion. Dem Frosch leuchtet das ein. Er nimmt den Skorpion auf den Rücken. In der Mitte des Flusses sticht der Skorpion den Frosch. Der Frosch, sterbend: „Warum hast du mich gestochen?“ Der Skorpion: „Ich konnte nicht anders.“
Jetzt rudert Gerhard Schröder mit beiden Armen. Bis in die Neue Mitte hat er sich von Oskar Lafontaine tragen lassen. Ob ihm wohl schon dämmert, dass er besser daran getan hätte, den ungeliebten Genossen-Rivalen nicht wegzubeißen?
Jedenfalls kann auch ihm nicht verborgen bleiben, dass die SPD nicht bloß von Niederlage zu Niederlage trudelt, sondern in einen existenziellen Krisenstrudel gezogen wird. Es ist kaum zu glauben: Gerhard Schröder, der früher immerhin als instinktsicherer Machtpolitiker und virtuoser Medienzampano aufgefallen war, macht einfach alles falsch.
Dass die Inszenierung in der Politik die halbe Miete ist, dies ist der Kern von des Kanzlers Überzeugungen. Dass die falsche Inszenierung zur falschen Zeit jede Politik delegitimiert, wird ihm jetzt erst richtig klar. Ohne in Details bundesrepublikanischer Haushaltspolitik gehen zu wollen: Ein Sparprogramm zur Konsolidierung zerrütteter Staatsfinanzen mit dem Ziel, die Politik wieder aktionsfähig zu machen, ist nicht per se zu verteufeln. Es ist auch den Wählern und der sozialdemokratischen Parteibasis vermittelbar, wie die Beispiele vergleichbarer Programme in Österreich und Italien Mitte der Neunzigerjahre zeigten – in beiden Ländern stiegen die Finanzminister zu den populärsten Politikern auf.
Doch die Voraussetzung ist, dass die handelnden Politiker einerseits glaubhaft machen, dass die Sparpolitik gerecht ist und allen Opfer abfordert, und andererseits sie selbst jene Bescheidenheit verkörpern, welche erst die Abrufung emphatischer Gleichheitsideale erlaubt. Ohne diese Bedingungen wird jedes verlangte Opfer als weiterer Beweis für die ohnehin offensichtlichen Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft wahrgenommen.
Es ist zu billig, die Abkehr der Wähler von der Sozialdemokratie als Folge des Sachverhalts zu deuten, dass die Einwohner der deutschen Wohlstandsgesellschaft jeden Schnitt in Besitzstände brutal abstrafen – eine Regierung, die den schwierigen Umbau des Sozialsystems also anpackt, notwendig durch ein Tal der Tränen muss. In der Rache der Wähler an Schröder & Co. materialisiert sich auch der hohe Wert, den die deutsche Gesellschaft dem Ideal der Gleichheit beimisst – und umgekehrt der scharfe Instinkt für deren Gefährdungen.
Ein Kanzler, der am Morgen Anrufe von Piäch & Freunden gerne entgegennimmt und deren Wünsche meist rasch erfüllt, der mittags mit Kaschmirmänteln posiert, um kurz danach vor aller Augen an seinen dicken Zigarren zu saugen, wird es schwer haben, am Abend für eine Reformpolitik zu werben, die auch etwas kostet. Der hat ein Imageproblem und geht fürderhin als Symbol für die Ungerechtigkeit der Welt umher, dafür, dass man den kleinen Leuten in den Sack greift und „die da oben“ ungeschoren lässt.
Es ist beinahe grotesk: Schröder, der Held der Hochglanzpostillen, hat jede Sensibilität für die Macht der Bilder verloren und glaubt in seiner Not, mit lächerlichem Dezisionismus à la „Unsere Politik ist richtig. Wir werden sie durchsetzen“ noch etwas gewinnen zu können.
Dieser politische Realitätsverlust hat seinen Ursprung auch in der ideologischen Verwirrung der Sozialdemokratie des dritten Weges. Denn die „neuen Sozialdemokraten“ in Deutschland oder Großbritannien haben die Regierungsstellen ja nicht erobert, indem sie die neoliberale Hegemonie bekämpften und besiegten, sondern indem sie die Begriffe des Neoliberalismus auf ihre Art „kaperten“. Das ist nicht grundsätz- lich schlecht, ist dies ja auch ein Mittel des politischen Kampfes. Bloß klaut man Begriffe nicht einfach, man gerät auch in deren Gefangenschaft.
In einer solchen Lage – angesichts eines brüchiger werdenden sozialstaatlichen Konsenses auf der einen, verunsicherter Kernschichten auf der anderen Seite – gleicht sozialdemokratische Politik einem Trapezakt. Sie muss den Gleichheitsidealen der eigenen Stammklientel entsprechen und doch – mangels einer realen strategischen Mehrheit – die Mittelschichten umgarnen. Auf diesem Königsweg gelangte die oppositionsgewohnte deutsche Sozialdemokratie zum Wahltriumph des vergangenen September. Doch mit dem Triumph des „Prinzips Schröder“ über das „Prinzip Lafontaine“ zerbrach die prekäre Basis dieser Politik.
Der Schröderismus feiert das Primat der Ökonomie, das Konkurrenzprinzip des liberalen Kapitalismus, in dem das Gleichheitsversprechen der traditionellen Sozialdemokratie nur mehr zum Prinzip der „Chancengleichheit“ modernisiert zu überleben vermag, und gibt jeden Kampf um eine andere Politik auf. Er erliegt den Illusionen des Zeitalters, indem er den Konfliktcharakter von Politik leugnet und diese nur mehr als pragmatische Auseinandersetzung um „richtige“ oder „falsche“ Konzepte wahrnimmt.
Er kapituliert damit vor den Attacken der Gegner, die im letzten Jahr mit kaum mehr für möglich gehaltener Unverfrorenheit die Ergebnisse des demokratischen Regierungswechsels auf außerparlamentarischem Wege zu „korrigieren“ suchten. Ihm gelten die Sorgen der eigenen Leute nichts, das Lob der Henkel & Konsorten alles. Jetzt steht sein führender Adept und Namenspatron vor dem Scherbenhaufen seiner Politik.
In genau drei Jahren finden die nächsten Bundestagswahlen statt. Bis dahin wird die SPD ihre einstige Dominanz in den Ländern vollends verspielt haben. Trotzdem bleibt möglich, dass sich nach zwei harten Jahren der Wind wieder dreht. Nur ist die Krise der SPD zu tief, als dass sie sich einfach mit dieser Hoffnung beruhigen dürfte. Sie ist im freien Fall. Die morgigen Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und die Landtagswahl in Thüringen werden das ein weiteres Mal zeigen: Hier werden frühere Hochburgen geschleift, dort wird die Sozialdemokratie nach CDU und PDS bloß drittstärkste Kraft werden.
Die Art, wie es den Frontleuten der Sozialdemokratie gelang, in einzigartiger Weise den Kredit einer neuen Regierung in wenigen Monaten zu verspielen, nährt jedenfalls keineswegs irgendwelche Hoffnungen, sie könnten doch noch das Steuer herumreißen.
Robert Misik
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