: Mit einem gewissen Tonfall
Mathias Habich übernimmt nicht jede Rolle. Für den Part des jüdischen Intellektuellen Victor Klemperer sollte er unbedingt gewonnen werden. Der berühmte Schauspieler sagte nur: „Ich hätte gedacht, das ist unverfilmbar.“ Ein Irrtum. Kommende Woche beginnt in der ARD die zwölfteilige Serie mit der Geschichte jenes Mannes, der den Alltagsterror in der Nazizeit in seinen Tagebüchern so akribisch notierte. Was Mathias Habich zu der Verfilmung meint, hat er uns im Gespräch verraten Von Klaudia Brunst (Text) un Detlef Schilke (Fotos)
Sie haben eine Stunde Zeit“, erklärte mir die Agentin freundlich. „Herr Habich erwartet Sie in der Hotellounge um fünfzehn Uhr.“ Jetzt ist es kurz vor drei. Ich lerne meine Interviewpartner gern im Sitzen kennen. Kleine Männer schrecken gelegentlich vor meiner Körpergröße zurück. Schauspieler sind oft kleine Männer. Nach einem Blick über die verwaisten Clubsessel installiere ich mich schließlich im Zentrum der Halle, so habe ich Eingang und Aufzüge zugleich im Blick. Sicher ist sicher. Von hier aus kann er mir nicht entgehen.
Kann er doch. „Ach, hier bist du“, stürmt der Fotograf auf mich zu, „wir sind da hinten.“ Er deutet ins Dunkel. Dort sitzt nun doch im letzten Winkel des Separées reglos hingegossen eine lange, stattliche Gestalt. Zu seinen Füßen eine gigantische Reisetasche. „Bitte fassen Sie sich kurz. Nach diesem Termin muss Herr Habich sofort zum Flughafen“, hatte mir seine Agentin eingeschärft.
Mathias Habich begrüßt mich, ohne aufzustehen. Er empfängt. Eine blaue Sonnenbrille verdeckt seine (müden?) Augen. Das kann ja heiter werden. Ich beschließe, das Ding muss weg: „Ist die echt?“, frage ich. „Ja“, sagt er, „warum?“ Die Botschaft ist angekommen. Und die Augen sind gar nicht müde. Sie sind blau und so schön wie im Fernsehen.
„Mathias Habich wurde in den Siebzigerjahren durch den Film (u.a. Volker Schlöndorffs 'Der Fangschuss‘, 1976) und das Fernsehen populär“, schreibt das Bibliographische Archiv Munzinger. Für mich bleibt er immer der „Friedrich Freiherr von der Trenck“, den er 1973 in der gleichnamigen Abenteuerserie im ZDF spielte. Bis dahin hatte der Mann nur Theater gemacht: Zürich, München, Berlin, Wien, Paris – eine ziemlich erfolgreiche, ziemlich elitäre Bühnenkarriere.
Mit dem Trenck empfahl sich der „Prinz von Homburg“ nun erstmals als Kinopantoffelheld. Zwei Jahre später prägte er sich seinem neuen Fernsehpublikum noch als „Simplizissimus“ ein, dann aber floh er schon wieder die heimische Breitenwirkung und ging nach Frankreich. In den Achtzigerjahren experimentierte er hier und dort, buchte in den USA Workshops, spielte an Peter Brooks Theater in Paris. An seiner Vita ist abzulesen, wie viel mehr als das Fernsehen ihm die ernste Schauspielkunst des Theaters bedeutet. Vielleicht holt ihn das Fernsehen gerade deshalb zu den „wichtigen“ Produktionen: „Das Urteil“, „Deutschlandlied“, „Die Rättin“. Nun also die Klemperer-Tagebücher: ein Leben in zwölf Teilen. Zwei Folgen pro Woche wird die ARD zur besten Sendezeit ausstrahlen. Kein Wunder, dass sich die Fernsehillustrierten um ihn reißen.
Dem Fotografen fehlt hier das nötige Licht. Ihm wäre ein Interview draußen natürlich am liebsten, aber im Straßencafé fürchte ich den Verkehrslärm und die Sonnenbrille. Der Wintergarten? Die Direktion des „Kempinski“ bemüht sich. „Das hätten Sie aber anmelden müssen“, belehrt mich die Hotelangestellte. Sie erwartet eine Entschuldigung. Aber dem Herrn Habich – sie lächelt ihn an, er lächelt zurück – will man die Bitte natürlich nicht abschlagen. Wie gut, dass er die Brille abgenommen hat. Am Ende hätte sie den so kunstvoll unrasierten Wegelagerer gar nicht erkannt.
Also Warten, also Smalltalk: Wo es denn anschließend hingeht? Nach Zürich, nach Hause. Die Promotiontour für den „Klemperer“ ist abgeschlossen, heute früh hatten sie noch ein Fotoshooting für die HörZu, ich bin sein letzter Termin. „Die taz?“, revanchiert er sich mit einer höflichen Gegenfrage. „Erscheint die nicht in Hamburg?“ Alles klar, er kennt uns nicht. Das ist einerseits gut, denn so hat er keine Vorurteile, aber es ist auch schlecht. Denn so kann er nicht wissen, dass die ambitionierte taz immer etwas anderes vorhaben muss als die Anderen. Dass es also in unserem Gespräch auch um Peter Brook, um verbrauchte Bilder, um Martin Walser und was weiß ich gehen muss. So aber hält er mich jetzt bestimmt für eine von HörZu.
Habich zupft gelangweilt am Kragen seines dicken Rollkragenpullovers. Draußen hat es 27 Grad im Schatten. „Ihnen ist kalt?“, frage ich, aber es klingt nicht wirklich besorgt. „Nein, das ist nur wegen der Fotos“, funkelt er mich an. Wenn sein „Klemperer“ Mitte Oktober anläuft, ist Herbst. Da passt der Winterpulli natürlich. Hier sitzt ein Profi, heißt das. Und hätte ich mehr HörZu-Erfahrung, wüsste ich das auch.
Viertel nach drei, endlich ist der Wintergarten bereit. Mathias Habich steht auf. Er ist so groß wie ich. Glück gehabt. Gemeinsam schlendern wir durch die Halle, und ich erlaube ihm scherzhaft, jede Frage unbeantwortet zu lassen, die er schon mindestens fünfundzwanzig Mal gehört hat. Es soll kokett klingen. Und Habich spielt mit. „Es gibt keine Frage, die ich nicht schon mal hundert Mal gehört habe“, gibt er zurück und markiert ein Stoßgebet. In Gedanken gehe ich ein letztes Mal mein Konzept durch.
Keine Ahnung, wie ich mir die Figur Victor Klemperer vorgestellt habe. Auf Mathias Habich wäre ich wohl nicht gekommen. Zu groß, zu vital, zu expressiv für einen jüdischen Hochschulprofessor, der sich in den Jahren der Naziverfolgung hinter seinem Tagebuch verschanzt. Kein Gesicht für einen, der blieb, um der Nachwelt minutiös zu berichten, und wohl auch, weil er als Philologieprofessor für sich im Ausland keine Zukunft sah. Viele hätten wohl eher auf einen Typ wie Ulrich Mühe getippt. Aber da ist andererseits auch der Weltkriegskämpfer, der Nationalist, der Sturkopf Klemperer. Bei näherem Hinsehen ist Mathias Habich doch eine ausgezeichnete Wahl. Er macht seine Sache sehr gut. Ob er sich wohl selbst in dieser Rolle sah?
Nein, gibt er zu, in Frankreich habe er von dem großen Publikumserfolg der Tagebücher gar nichts mitbekommen. „Aber als das Angebot dann kam, habe ich sie mir gekauft und wurde danach süchtig: Das ist ein Sog, dieser O-Ton der Vergangenheit.“ Wir unterhalten uns ein wenig über die erzählerische Qualität der akribischen Tagebuchnotizen, über die Macht des Authentischen und die eher ungeordnete Detailfülle des Materials. „Ich hätte gedacht, das ist unverfilmbar“, gibt er zu und verweist dann höflich auf die gewichtige Arbeit des Drehbuchautors Peter Steinbach, der den Stoff für das Fernsehen eingerichtet hat. Habich auf Promotour.
Ein ganzes Jahr hat es gedauert, bis die neun Stunden Film abgedreht waren. Ein Marathon für den Hauptdarsteller. Peter Steinbach hat zudem die Rolle von Klemperers Frau deutlich ausgebaut, und so wurde Mathias Habich mit Dagmar Manzel ein starkes Gegenüber vor die Nase gesetzt. Sie hat es mit ihrer Rolle augenscheinlich leichter, spielt die Expressive, Unwirsche, Fordernde. Ihr werden die Gefühle auf den Leib geschrieben, er muss zur Bewältigung seiner Krisen monoton in die Schreibmaschine hämmern.
Wie hat Mathias Habich diese so introvertierte Rolle, die ja zudem einen ziemlich langen Atem braucht, angelegt? „Ja, wie legt man eine Rolle an?“, wiederholt er meine Frage gedehnt (gelangweilt?). „Es war ja ein Glücksfall, dass hier so wahnsinnig viel Material vorhanden war. Das liest man dann, auch das Drehbuch, geht spazieren, denkt darüber nach ...“ Einmal, ein einziges Mal möchte ich mich mit einem Schauspieler über das Schauspielern unterhalten können. Spazierengehen! So kommen wir nicht weiter.
Ich versuche es noch einmal anders. Die Tagebücher wurden von zwei Regisseuren inszeniert: Kai Wessel und Andreas Kleinert. Und man sieht die unterschiedlichen Handschriften durchaus. „Waren Sie da nicht gewissermaßen ein Diener zweier Herrn?“, frage ich. „Ich bin kein Diener, ich bin mein eigener Herr!“, gibt Habich pompös zurück. – „Es war ein Literaturzitat.“ – „Goldoni?“ – „Ja.“ Kleine Pause. Sie wird größer. Jetzt bin ich ein bisschen beleidigt. „Ach, wissen Sie“, gibt er sich nun doch ein wenig Mühe mitzuarbeiten: „Ich entwickle die Rolle ja nicht am Set. Die Haltung, die Sprache, die Macken, die Schwächen – das ist ja alles schon da, wenn wir mit dem Drehen anfangen. Natürlich ist man dankbar für Hilfen ... Das ist ein behutsamer organischer Prozess, den man hinterher gar nicht mehr so gut bescheiben kann.“ Schade für mich. „Ja, schade für Sie.“ Da müssen wir beide lachen. Vielleicht liegt der Zugang ja im Detail.
„Sie erwähnten gerade die Sprache ...“
„Ja ...“
„Anfangs sprechen sie so seltsam.“
„Hmm.“
„Sehr betont und mit einem unbestimmten Idiom ...“
„... Ja, das ist der Professor!“
„... Das verliert sich dann aber mit der Zeit ...“
Jetzt kommt Habich endlich in Fahrt: „Sicher, er wird ja auch sprachloser, stiller, ruhiger. Auch offener und weicher. Er ist nicht mehr der, der vorn am Pult steht und was zu sagen hat.“
„Dann ist es also das Professorale, das wir da hören, und nicht nur seine anfangs noch ungebrochene Vitalität?“
Bingo! Mathias Habich denkt über meine Frage tatsächlich nach. „Ich weiß nicht“, zögert er. „Wissen Sie, ich bin in einem Umfeld mit vielen Juden groß geworden, die Freunde meiner Eltern waren fast alles Juden. Es ist so ein gewisser Tonfall, der sich eben unterscheidet. Es ist auch schneller, aber es ist nicht nur die Geschwindigkeit. Ich meine jetzt nicht das Jiddeln. Dieser Klang hat so eine bestimmte, fremdelnde Wärme.“
Jetzt markiert er für mich noch einmal diesen Sound aus den ersten „Klemperer“-Folgen im Stehgreif, so wie Sportler einen Bewegungsablauf im Trockenen vorführen. Wir hören beide zu. „Doch“, sagt er dann bestimmt. „Es ist nicht der Sachse, es ist der jüdische Professor. Deshalb wird es ja auch ein bisschen weniger. Wenn ich mich das jetzt sagen höre“, zieht er wieder zurück, „höre ich gleich wieder diese seltsame Trennung zwischen den Juden und Deutschen.“
Mir fällt dazu sein Interview im ARD-Presseheft ein. Da wurde Habich tatsächlich gefragt, ob es nicht schwer ist, als Nichtjude einen Juden zu spielen. „Das ist so eine dumme Frage!“, pflichtet er mir bei. „Wissen Sie noch, was Sie geantwortet haben?“ – „Weiß ich nicht mehr ...“ Er schüttelt bedauernd den Kopf. Hält inne. Denkt nach, zögert. „Also gut, ich spiele einen Menschen, dem das Bewusstsein, Jude zu sein, von den Nazis eingeredet worden ist. Es ist nicht schwierig, den jüdischen Menschen zu spielen. Es ist schwierig, den Menschen mit dem Stern zu spielen.“
In der ARD-Verlautbarung hört sich das dann so an: „Nach jedem Drehtag – an dem wir uns in beklemmende, demütigende und gefährliche Situationen imaginiert hatten, Situationen, die vor ein paar Jahrzehnten in Deutschland Wirklichkeit waren – war mir bewusst, was es heißt, als deutscher Nichtjude einen jüdischen Deutschen dazustellen, der in der Nazizeit leibhaftig bedroht worden war und gelitten hat. Es kamen auch Zweifel auf, ob ich das denn dürfte, ob es nicht Gefühle von Menschen der jüdischen Gemeinde verletzen könnte. Bei aller Lust, diese Rolle zu spielen, glaube ich, dass es meine Pflicht war, mir den gelben Stern anzuheften, eine Pflicht, die Verantwortung in sich trägt.“
Es ist kurz vor vier. Die Zeit ist um, vierzig Minuten, zweiunddreißig Sekunden zeigt mein Tonband an. Die Fragen sind gestellt, die Fotos gemacht. Habich zieht seinen Pullover aus. „Das war's“, sage ich, „vielen Dank.“
„Dann kann ich die da ja jetzt wieder aufsetzen“, sagt Mathias Habich und greift nach seiner Brille. „Haben Sie mich überhaupt gesehen?“ – Seine blauen Gläser spiegeln mich vorwitzig an: „Ein bisschen verschwommen.“
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