: Märchen von der Fremdheit
■ Einkaufen in einer kleinen deutschen Bäckerei mit tausendundein Brotsorten oder Die Qual der Wahl in einem fremden Land mit einer unbekannten Sprache
Es war einmal eine kleine Bäckerei in der City. Vor der Tür kamen die Leute aus allen Richtungen und gingen in alle Richtungen, einige betraten den Laden, kauften irgendetwas und gingen mit ihren Papiertüten gleich wieder raus. Alle beeilten sich, um in den wenigen Minuten vor Ladenschluss noch die letzten Einkäufe zu erledigen. Ich hatte es nicht eilig. Ich war erst einige Wochen zuvor in Hamburg angekommen und gehörte noch nicht zu dieser Stadt, so wie sie auch noch nicht zu mir gehörte. Ich hatte mich noch nicht unter ihre Straßen gemischt, ich hatte ihre Namen noch nicht gelernt, ich kannte weder ihre Geheimnisse noch ihre Schönheit oder Hässlichkeit, ich bewegte mich nicht nach ihrem Rhythmus, ich blieb am Rande ihrer Eile und ihres Diktats.
Somit war es für mich gar kein Thema, dass die Bäckerei schon bald schließen würde. Außerdem hatte ich damals andere, wichtigere Probleme. Die Zeiten der absoluten Fremdheit waren vorbei. Es war schon nicht mehr lustig, nichts verstehen zu können, und ich bekam langsam Lust, zumindest die elementarsten Sachen in den Griff zu bekommen.
An jenem Tag ging ich nach meinem Deutschkurs in der City spazieren, was eins der billigsten Vergnügen ist, die es überhaupt gibt, und eine meiner liebsten und häufigsten Aktivitäten in diesen Monaten. Es muss Mitte Dezember gewesen sein, die Straßen und Schaufenster waren weihnachtlich geschmückt, und die Weihnachtsmärkte breiteten sich hier und da mit ihren kleinen Lichtern in der früh eingebrochenen Dunkelheit aus. In meinem Land, da ganz weit im Süden Lateinamerikas, haben wir auch beleuchtete Tannenbäume, vergoldete Kugeln und Sterne und rot angezogene Weihnachtsmänner. Diese schwitzen aber wie im Fegefeuer unter ihren Mützen und ihren künstlichen Bärten, und die Kugeln und Girlanden erblassen in der Sommersonne. Dieses, mein erstes Weihnachten in Europa, mein erstes winterliches Weihnachten, war eine Art Rendezvous mit meiner Kindheit, mit dieser Bilderwelt, die aus dem Norden zu uns kam, um Teil unserer Phantasien zu werden, obwohl sie unserer eigenen so fremd ist.
Nach ein paar Stunden weihnachtlicher Erlebnisse wollte ich nach Hause zurück. Als ich auf dem Weg zur U-Bahn war, sah ich die Bäckerei und kam auf die einfache, fast vulgäre Idee, Brot zu kaufen. Ich ging also hinein, aber in dem kurzen Augenblick, den ich brauchte, um den Laden zu betreten, nahm ich diese ganzen Brote wahr, ahnte die Absicht der Verkäuferin, mich nach meinem Wunsch zu fragen, und erinnerte mich daran, dass ich kein Deutsch sprechen konnte. Ohne wirklich drin gewesen zu sein, ging ich wieder raus, in der Hoffnung, dass niemand mich in meiner Verwirrung bemerkt hatte.
Als ich wieder auf der Straße stand, schien mir das Ganze so absurd und unmöglich, dass ich mich entschloss, noch einmal in den Laden hineinzugehen. Es konnte nicht so schwer sein, Brot zu kaufen! Schließlich beherrschte ich schon ein bisschen „Tarzandeutsch“ – wie meine Freundin Silvia immer sagte –, und außerdem hatte ich zwei Hände, mit denen ich auf das ausgewählte Brot zeigen konnte. Diesmal schaffte ich es bis zum Tresen, und von da aus starrte ich auf die mir unendlich erscheinenden Brotsorten. Ich versuchte herauszubekommen, was für ein Geschmack sich hinter jedem dieser Namen „Roggen“, Sechskorn“, „Bauernbrot“, „Kartoffelbrot“ usw. verbarg. Ich hatte aber nicht genug Zeit. Der Mann, der vor mir dran war, brauchte kaum eine Minute, um seinen Kauf zu erledigen, und die Verkäuferin kam jetzt zu mir. Egal wie absurd es scheinen mag, vor allem mir selbst, konnte ich dieses Mal auch nichts sagen und verschwand wieder. Die Szene wiederholte sich noch ein- oder zweimal. Und wieder war meine Furcht stärker; und wieder ging ich weg, weil ich Angst hatte; Angst vor dem Geschmack, vor dem Preis, vor meiner Unfähigkeit, mich richtig oder überhaupt ausdrücken zu können. Und wieder ging ich in den Laden zurück, weil es doch verdammt noch mal nicht so schwer sein konnte, Brot zu kaufen.
Schließlich ging ich ein letztes Mal rein, zeigte auf irgendein Brot, bezahlte es, sagte in meinem bestmöglichen Deutsch Dankeschön und fuhr nach Hause. Wie teuer das Brot eigentlich war, weiß ich nicht mehr. Es kostete aber bestimmt weder mehr noch weniger als jedes andere Brot. Und schmecken? ... tat es sicherlich nach Brot. Wonach sonst?
Paulina Iriarte Rivas
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen