: Pakistaner fordern Rechenschaft
Die Bevölkerung in den Dörfern des Zentralpunjab die korrupte Demokratie à la Benazir Bhutto oder Nawaz Sharif satt. Nun setzt sie ihre ganze Hoffnung aufs Militär und ist sauer auf den Westen ■ Aus Jatli Bernard Imhasly
Ehtesaab!“, rufen alle Umstehenden und brechen in schallendes Gelächter aus, als sie merken, dass der Ruf nach „Rechenschaft“ wie im Chor herauskam. Dann allerdings ist es mit der Einstimmigkeit vorbei, und jeder versucht, den anderen zu übertönen, um seine Version über die Ereignisse der letzten Woche, über Täter und Opfer und vor allem über mögliche Lösungen kundzutun.
Wie überall im Subkontinent ist auch in Jatli, dem Tausend-Seelen-Dorf mitten in der trockenen nordpakistanischen Ebene, der Basar der Ort, wo politisiert wird. Frauen sieht man keine, denn, der Islam ist hier noch die absolute Richtschnur. Dafür eilen die Bauern herbei, die den Sonntag – neuerdings der offizielle Feiertag – dazu nutzen, um im Marktflecken Dünger einzukaufen oder sich den Mähdrescher flicken zu lassen.
Politisieren ist wie überall auf dem Subkontinent auch hier der beliebteste Zeitvertreib, doch der Enthusiasmus der Leute von Jatli ist neu. „Wir sind glücklich, ganz, ganz glücklich“, resümiert der beleibte Besitzer des Teeladens die Stimmung seiner Gäste nach die Machtübernahme des Militärs. Und von allen Seiten schwirren die Anklagen herbei – und landen allesamt auf dem Haupt des armen Nawaz Sharif, des gestürzten Ministerpräsidenten: „Er war ein Elefant, der zwei Stoßzähne zeigte, aber die Zähne, mit denen er alles auffraß, die versteckte er“, lautet einer der farbigeren Vergleiche. „Bei den Wahlen hat er uns eine saubere Verwaltung versprochen und eine gute Wirtschaftsführung“ setzt Liaqat Hussain die Litanei fort. „Aber schau, was er getan hat: unser Geld hat er uns aus den Taschen gezogen und in die seine gesteckt. Er hat Pakistan wie seine Privatfirma behandelt.“
Die Region von Chakwal, wo Jatli liegt, ist eine trockene, von Erosion zerfurchte Gegend, die neben Hirse und Roggen nur mageres Weideland hergibt. Das wenige Grün der soeben abgeschlossenen Regenzeit hat sie bereits eingebüßt. Schon unter den Engländern gehörte der Zentralpunjab daher zu den wichtigsten Rekrutierungsgebieten der Armee. Auch in Jatli sind an diesem Tag mehrere ehemalige Soldaten wortreich dabei.
Das schlimmste Verbrechen von Sharif sei es gewesen, mit der Absetzung des Armeechefs Pervez Musharraf die Armee spalten zu wollen. „Er hat die Justiz, das Parlament, die Opposition, alle Institutionen zerstört, und nun wollte er sich noch die Armee untertan machen“, sagt Alad Din, ein pensionierter Luftwaffen-Wachtmeister, in passablem Englisch. „Die Armee wird von ihm nun Rechenschaft fordern.“
„Ehtesaab“ – Rechenschaft – ist das magische Wort, das alle Konversationen und Zeitungsseiten füllt. Ein Mann schwingt ein Exemplar des Urdu-Blatts Jang in den Händen, weil dort Zahlen drinstehen, die an diesem Tag von allen Zeitungen abgedruckt wurden: Für eine Summe von nicht weniger als 220 Milliarden Rupien stünden rund 500 Politiker gegenüber den staatlichen Banken in der Kreide – mit längst verfallenen Zahlungsfristen. Allein die Familie von Nawaz Sharif und seinem Bruder Shahbaz, dem starken Mann der beherrschenden Provinz Punjab, hat nach den Berichten riesige Darlehen aufgenommen. Von den 23 Unternehmen schuldeten allein die vier Ittefaq-Stahlwerke den Banken 5,7 Milliarden Rupien – gegenüber einem Nettovermögen von 2,3 Milliarden.
Es ist nicht etwa so, dass die Bauern von Jatli von solchen Vergehen nur gelesen haben. Die Filiale der Habib-Bank an der nahen „Grand Trunk Road“ musste dem lokalen Senator Gulzar 90 Millionen vorstrecken – für ein Wohlfahrtsprojekt, das gar noch zinsfrei war. Zwei Jahre löste sich das Projekt und damit das Geld in Luft auf. „Doch der Bauer“, ereifert sich der Angestellte der Habib-Bank, Mansur Javed, „braucht ein Schreiben eines Politikers, wenn er einen Saatgut-Kredit von 7.000 Rupien will. Und er zahlt 19 Prozent Zinsen dafür.“
Und das Verhalten der Mächtigen von Islamabad und Lahore machte bis auf die Dorfebene Schule. Der Taxifahrer Sarfaraz Malik lächelt, als er bei einer Polizeikontrolle zwischen Jatli und Chakwal sofort wieder weiterfahren kann.
„Normalerweise muss ich hier fünfzig Rupien zurücklassen. Und wenn ein Ausländer im Auto sitzt, sind es hundert. Heute war die Hand am Käppi – und nicht offen neben der Wagentür.“
Um den Prozess der Rechenschaft durchzuziehen, sollen die Militärs so lange bleiben, wie es nötig ist, lautet die auf den Straßen kundgetane Meinung. „Wir sind für Demokratie, aber war das etwa Demokratie, was wir hatten?“, mischt sich der Besitzer der Teeschänke wieder ein, und er fragt den einheimischen Übersetzer drohend, ob der fremde Besucher etwa ein US-Bürger sei. „Die Amerikaner sind die Besten. Von uns wollen sie Demokratie, aber als es darum ging, die Russen aus Afghanistan zu vertreiben, da war ihnen (der Militärdiktator) Zia ul-Haq) gerade recht.“
Auf die Frage, was sie von der Forderung der EU halten, bis Mitte November die Demokratie wieder einzuführen, reagieren die meisten mit Protesten. „Ihr habt ja keine Ahnung, was bei uns Demokratie heißt“, sagt einer. „Es ist die Fähigkeit von Kriminellen, sich von Analphabeten dank Versprechen und Wahlgeschenken wählen zu lassen und dann ihre Ausgaben beim Staat einzutreiben.“
Es ist unvermeidlich, dass in einer islamischen Dorfgesellschaft „Ehtesaab“ eine religiöse Dimension erhält. Ein älterer Bauer erzählt beim Tee die Geschichte vom zweiten Kalifen Hazrat Umar. „Ein Mann traf den Kalifen auf der Straße, mit einem langen Hemd am Leib. 'Wie kommt es, dass du dir ein so langes Hemd leisten kannst, wenn du beim Schatzamt doch nur ein Gehalt für ein kurzes beziehst?‘, fragte der Mann den Kalifen. 'Ich habe meines und das meines Sohns zusammengenäht‘, antwortete ihm Hazrat Umar. Das ist Ehtesaab! Sogar der Kalif muss Rechenschaft über sein Einkommen abgeben.“
Neben dem Traum von der Rückkehr der vergangenen Zeit, in der alles besser war, steht in Jatli konkret die Forderung nach dem Kriegsrecht im Vordergrund – und eine deutliche Hinwendung zu islamischen Parteien. „Unsere Religion umfasst alles“, erklärt Ex-Wachtmeister Hussain, „meine Beziehung zur Familie, zur Arbeit, zur Gesellschaft, aber auch zu meinem Herrscher. Warum sollten wir nicht eine islamische Politik verlangen, wie sie die Jamaat Islami anbietet?“
Im Distrikhauptort Chakwal sind die Leute dessen nicht so sicher. „Jetzt erscheint die Jamaat noch in leuchtenden Farben. Doch wenn Qazi Hussain einmal an der Macht ist, werden sie die Religion vor den Wagen der Politik spannen statt umgekehrt,“ meint Mohammad Iqbal, der einen Autoverleih besitzt. Gibt es denn gar keine guten Politiker? Doch, schon, lautet die Antwort. Drüben, auf der anderen Straßenseite, lebe einer, aber der sei zurückgetreten.
Ayyaz Amir war bis zum Frühjahr 1999 ein Landtagsabgeordneter in Lahore. „Dann warf ich den Bettel hin“, sagt der Mittfünfziger mit fröhlichem Zynismus in seinem einfachen Büro über den Bazarläden. Als Nawaz Sharif 1997 in den Wahlkampf zog, um die korrupte Benazir Bhutto zur „Rechenschaft“ zu ziehen und Pakistan von Korruption zu reinigen, ließ sich Amir überreden mitzumachen.
„Noch nie hatte ein Politiker ein so überwältigendes Mandat. Doch was tat er? Er machte sogleich seinen Kumpanen Saifur Rehman, einen bekannten Geschäftemacher, zum obersten 'Ehtesaab Commissioner‘. Da wusste ich, was Ehtesaab für ihn bedeutete: Benazir Bhutto fertigzumachen und sich hinter dieser Fassade dann selbst zu bereichern.“
Amirs Versuche, in die Arbeit des Landesparlaments des Punjab Transparenz einzubringen, scheiterten am passiven Widerstand seiner Kollegen.
Er reichte gegen den Widerstand seiner Wähler den Rücktritt ein. „Deshalb wollen wir die Armee“, lautet die Schlussfolgerung des Autoverleihers Iqbal. „Nur sie kann die Demokratie wiederherstellen.“ – „Ach was“, kommentiert Amir diese Hoffnung. „Wie kann die Armee in einem korrupten System ein Engel bleiben? Erinnern Sie sich an den Ausspruch von Qazi Hussain? 'Die Korps-Kommandanten sind Crore-Kommandantenten.‘ “ Crore bedeutet auf Deutsch „zehn Millionen Rupien“.
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