Eine Verdunklung, die seit 1944 besteht“

■ Die Affäre Papon ist Beispiel und Symbol für die Unfähigkeit der französischen Gesellschaft, sich der Mitschuld an den Verbrechen der Nazis zu stellen, sagt der Historiker David Douvette

David Douvette ist Historiker, Vorsitzender von Shoah-Gedenkstätten mehrerer Vereinigungen ehemaliger jüdischer Résistants.

taz: Was bedeutet die Affäre Papon für die französische Vergangenheitsbewältigung?

David Douvette: Das, was in den vergangenen Tagen passiert ist, zeigt eine Malaise. Frankreich, die Franzosen, die Institutionen, die Justiz haben die Periode von Vichy nicht verarbeitet. Die Affäre zeigt einen Staat und eine Justiz, die nicht funktionieren, was zu Milde im Umgang mit Papon geführt hat: 17 Jahre bis zur Anklageerhebung. Ein Prozess unter Umständen, die ganz besonders vorteilhaft für den Angeklagten waren. Die Tatsache, dass er zu einer Strafe verurteilt wurde, die unverständlich ist – entweder, er ist schuldig, dann sind zehn Jahre nicht genug, oder er ist unschuldig, dann ist es zu viel. Die Tatsache, dass er auf freiem Fuß blieb. Alles weist in dieselbe Richtung: Man wollte diesen Prozess nicht.

Wen meinen Sie mit „man“?

Frankreich als Ganzes, die Franzosen als Personen und die Körperschaften, die eine schwierige Vergangenheit haben. Die Justiz zum Beispiel hatte 1940 bis 1944 keine glorreiche Periode.

Sie sehen keinen Unterschied zwischen der Rechten, der Papon angehörte, und der Linken?

Nein. Es passierte unter einer sozialistischen Justizministerin, Madame Guigou, und einem sozialistischen Premierminister, Monsieur Jospin, und einem neogaullistischen Staatspräsidenten, Monsieur Chirac. Alle haben sich darauf beschränkt, die Justiz zu kritisieren. In Frankreich gibt es einen nationalen Konsens, der sogar die Opfer von Vichy einbezieht, eine kollektive Akzeptanz einer bestimmten Art von Geschichtsschreibung. Das ist eine Verdunkelung, die seit 1944 besteht.

Warum hat man denn Papon überhaupt den Prozess gemacht? Ich erinnere daran, dass es nur einen einzigen Prozess gegen die Miliz [das Vichy-Pendant zur Gestapo; die Red.] gegeben hat – den gegen Paul Touvier. Es gab auch nur einen Prozess gegen die SS – gegen Klaus Barbie. Und es sollte einen großen Prozess des öffentlichen Dienstes geben. Ursprünglich war dafür René Bousquet [Polizeiminister von Vichy, der in Paris die große Razzia im Juli 1942 organisiert hat; d. Red.] vorgesehen. Leider wurde er ermordet. Da blieb Papon übrig. Als symbolische Figur für diese Periode. Der Prozess gegen Papon war das, was nach der Erklärung von Jacques Chirac [über die Mitverantwortung Frankreichs an Nazi-Verbrechen; d. Red.] zugelassen wurde.

Hat dieser Prozess Ihnen die Arbeit als Historiker erleichtert?

Es war eine Justizmaskerade, die der Geschichtsschreibung nicht gedient hat. Man hat eine Tür geöffnet und schnell wieder geschlossen, weil man den Dingen nicht auf den Grund gehen will.

Glauben Sie, dass eines Tages der Prozess gegen das System von Vichy stattfinden wird?

Die Zeugen aus der ersten Linie werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren verschwinden. Aber der Prozess wird nicht morgen geschehen. Vichy ist immer noch ein nationales Drama, eine Zerreißprobe.

Interview: Dorothea Hahn