: Ganz Berlin ist nicht leicht fassbar
■ Lucie Schauer war Feuilleton-Chefin der „Welt“ und Direktorin des Neuen Berliner Kunstvereins. In „Ende und Wende“ beschreibt sie (West-)Berliner Kunstlandschaften
Zehn Jahre nach dem Mauerfall ist ein Rückblick auf die Berliner Kunstlandschaft notwendig und nützlich, hat sie doch wie keine andere besonderen Bedingungen und Verwerfungen unterlegen. Lucie Schauer, als ehemalige Feuilleton-Leiterin der Berliner Zeitung Die Welt und als Direktorin des Neuen Berliner Kunstvereins von 1975 bis 1994 über viele Jahre mit der Materie bestens vertraut, hat sich in der Statement-Reihe von Lin- dinger + Schmidt dieses Themas angenommen: „Ende und Wende“ nennt sie ihr Resümee, das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzt und ganz aktuell auch derzeit laufende Ausstellungen (im Sinne von Ankündigungen) noch mit einbezieht.
Die geballte Informationsflut wird durch 14 Kapitel gebändigt. Nach einem kurzen Überblick über die Zeit bis 1969, als die Studentenbewegung auch die Kunstszene neu aufmischte, folgen Einzelbetrachtungen: Akademie der Künste etwa oder der Berufsverband bildender Künstler, dann die beiden 1969 entstandenen Kunstvereine NBK und NGBK, Staatliche Kunsthalle, Neue Nationalgalerie und Berlinische Galerie; drei Personenporträts sind dazwischengeschaltet: Wolf Vostell, Eberhard Roters und Dieter Honisch. Danach werden Künstler und Großereignisse der letzten beiden Jahrzehnte rekapituliert, im Schlusskapitel vor allem mit Hinweisen auf den Wettbewerb zum Holocaust-Mahnmal.
Wie die Inhaltsangabe vermuten lässt, beschäftigt sich die Autorin mit dem ehemaligen West-Berlin. Das ist – sosehr man sich einen Gesamtüberblick auch wünschte (und nicht weiß, wer das leisten könnte) – durchaus legitim. Wenn aber im Untertitel des Buches von „Kunstlandschaft Berlin“ die Rede ist und erst im Text „Westberlin“ (womit nicht die neue, seit 1990 geltende Rechtschreibung, sondern die DDR-offizielle Schreibweise übernommen ist) als eigentlicher Gegenstand benannt wird, dann ist das Etikettenschwindel. Ost-Berlin kommt zwar vor, doch kursorisch, zufällig, etwa bei der Akademiegeschichte oder mit vereinzelten Ausstellungsprojekten. Auch der schwierige Prozess des Zusammenwachsens nach 1989 deutet sich nur schemenhaft an und erscheint allzu sehr unter der Pespektive der boomenden Galerienlandschaft in Berlin-Mitte.
Der Schwerpunkt des Buches liegt auf den 70er- und 80er-Jahren, als sich im Schatten der Mauer eine ganz eigene, subversive und subventionierte, kritische wie auch selbstbespiegelnde, traditionsbehaftete Kunstszene herausbildete. Kritischer Realismus und Neue Wilde prägten ihr äußeres Bild. Mit großer Materialfülle belegt Lucie Schauer die Lebendigkeit des Westberliner Kunstlebens – Projekte, Diskussionen, Künster(gruppen), Institutionen, Kulturpolitik. Sie tut das in flüssigem Plauderton, aber aus der Distanz, manchmal auch etwas atemlos und mit abrupten Brüchen. Leider tragen die ausnahmslos undatierten und recht willkürlich eingestreuten Abbildungen – von drögen Architekturfotos bis zum smarten Großporträt von Eisenman – nur wenig zur Akzentuierung bei.
Selbstverständlich ist Subjektivität für ein solches Statement Voraussetzung, Vollständigkeit kann und soll nicht erreicht werden. Trotzdem gibt es zum Teil recht schmerzliche Lücken: So kommen die Kunstämter, die sich nicht auf das Flaggschiff Haus am Waldsee reduzieren lassen, und die Kunst im öffentlichen Raum nur am Rand vor, auch Kunstkritik und Verlage, also die Vermittlerseite, spielen keine Rolle. Vor allem aber werden die großen Museen bevorzugt. Dass Berlin die Zeugnisse bedeutender Kunstbewegungen (Bauhaus-Archiv; Brücke-Museum; Werkbundarchiv), den Nachlass eines Bildhauers im eigenen Atelier (Georg-Kolbe-Museum) aufweist, wird mit starrem Blick auf die Zeit nach 45 nirgends erwähnt – auch nicht das Haus der Kulturen der Welt. Ganz Berlin ist eben nicht leicht fassbar, deshalb wird es weitere und erweiterte Studien geben.
Michael Nungesser
Lucie Schauer: „Ende und Wende. Kunstlandschaft Berlin von 1945 bis heute“. Lindinger + Schmidt, Regensburg 1999, 240 S., 39 DM
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