: Ein Elite-Sozialist aus Afrika
Der Mosambiker Clemens hat den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus gleich zweimal erlebt: in seiner Heimat und in der Deutschen Demokratischen Republik ■ Von Ursula Trüper
Eine akribisch aufgeräumte Einzimmerwohnung in Berlin-Mitte. Im Wohnzimmerregal auf der einen Seite ein Sortiment von bunten Likörgläsern, auf der anderen die blauen Bände von Marx und Engels. Unter dem Fenster eine voluminöse Couchgarnitur. Clemens grinst. Dies ist nicht seine Wohnung. Er ist vorübergehend bei einem Freund abgestiegen, bis er etwas gefunden hat. Dann erzählt er begeistert von seinen Zukunftsplänen. Er hat eine Umschulung zum Computertechniker angefangen. Demnächst möchte er die Abendschule besuchen. Und Kurzgeschichten schreiben. Und und und.
An den November 1989 erinnert sich Clemens noch sehr gut. „Wir waren in der Disko. Und da hatten wir zum ersten Mal Kontakt mit Ausländern, die im Westen gelebt haben. Und das Ding ist, dass die sofort erkannt haben, dass wir aus dem Osten kamen. Er hatte sich für diesen Abend richtig in Schale geschmissen: „Aber anscheinend hatte ich es übertrieben.“ Clemens muss immer noch lachen, wenn er daran denkt: „Dann kam jemand, der uns testen wollte. Er wollte eigentlich wissen, ob wir Drogen haben. Und damals kannten wir so was gar nicht. Er kam und wollte ,Blättchen' – auf Englisch, was wir damals auch nicht besonders gut verstanden. Also was zum Kiffen. Und was macht ein Kumpel von mir? Weil er nicht verstand, was der wollte, holt er eben ein normales Stück Papier raus, gibt es ihm!“
So verlief Clemens' erster Kontakt mit dem kapitalistischen Westen. Den Osten kannte er damals schon lange. 1982 war Clemens zum ersten Mal auf dem Flughafen Schönefeld gelandet. Damals war er 13 Jahre alt und bereits offizieller Staatsgast der DDR. Clemens war einer der ungefähr 900 Jungen und Mädchen aus Mosambik, die in der DDR eine Schul- und Berufsausbildung erhalten sollten. Die jungen Mosambiker sollten zur Elite des sozialistischen Brudervolkes erzogen werden. Es war eigens ein Internat für sie eingerichtet worden, die „Schule der Freundschaft“ in Staßfurt bei Magdeburg. „Das war wie eine kleine Stadt – und alles ringsherum war mit Zäunen und mit Mauern umgeben“, erinnert sich Clemens.
Als die Jugendlichen älter wurden und abends ausgehen wollten, wurde ihnen das von den Betreuern verboten: „Die haben gemeint, das geht nicht, wir düften keine Disko besuchen. Die haben sogar für uns extra eine Kneipe in diesem Ding da aufgemacht, damit wir nicht draußen saufen mussten.“
Abgesehen von offiziellen „Kulturbegegnungen“ gab es wenig Kontakte zwischen Deutschen und Afrikanern, weder zu Gleichaltrigen außerhalb der Schule noch zum pädagogischen Personal. „Die haben uns zwar irgendwie gut behandelt“, fasst Clemens seine Eindrücke über seine damaligen Lehrer und Betreuer zusammen, „aber auch als etwas ganz Fremdes. Es war, als ob nur wir Afrikaner von den deutschen Leuten lernen könnten, aber nicht umgekehrt.“
Davon abgesehen gefiel Clemens sein neuer Aufenthaltsort. In seiner Heimat hatte Bürgerkrieg geherrscht, nun war er in Sicherheit. „Ich war einfach froh, in der DDR zu sein, ich war froh, dass ich aus diesem ganzen Elend weg war und dass ich so viel lernen konnte. Wie soll ich sagen, es war einfach schön.“
Nach dem Ende der Ausbildung kehrten die Absolventen der „Schule der Freundschaft“ vertragsgemäß nach Mosambik zurück. Dort hatten sich mittlerweile die politischen Verhältnisse grundlegend geändert. Marktwirtschaft war jetzt angesagt, und die neue Regierung beäugte misstrauisch die jungen Kader aus der DDR. Jobs gab es für sie keine. Die jungen Männer wurden – oftmals vom Flughafen weg – in die Armee gesteckt, wo sie schikaniert und misshandelt wurden. Als die DDR Ende der Achtzigerjahre Vertragsarbeiter in Mosambik anwarb, setzten die ehemaligen Absolventen der „Schule der Freundschaft“ alle Hebel in Bewegung, um wieder in die DDR zurückkehren zu können. Auch Clemens.
Im Herbst 1989 landete er wieder in Ost-Berlin. Noch am Flughafen erlebte er etwas, was er bisher so noch nicht kannte: „Es herrschte schon diese Rebellionsstimmung, als ich angekommen bin. Ich weiß noch genau, wie plötzlich eine Gruppe Jugendlicher antanzte, und als die uns gesehen haben, hat einer ganz laut am Flughafen geschrien: Sind wir jetzt im Busch gelandet, oder was? Das war schockierend, weil so was damals in der DDR nicht öffentlich geäußert werden durfte – jedenfalls nicht in der DDR, die ich kannte.“
Clemens und einige andere Mosambiker wurden einem Betrieb in Schöneweide zugewiesen. Dort war die Stimmung eigenartig, erinnert sich Clemens. Viele seiner Kollegen plagten Zukunftsängste. „Einer, der war 19 damals, war richtig am Boden zerschmettert. Er meinte, jetzt werd ich arbeitslos, was mach ich denn jetzt, vielleicht verlier ich auch meine Wohnung. Der hat einfach keine Perspektive gesehen.“ Auch Clemens hatte ein mulmiges Gefühl. Dies war bereits das zweite Mal, dass er den Zusammenbruch eines sozialistischen Systems erlebte: „Wir hatten Angst davor, was uns erwarten könnte, sollte wirklich die DDR nicht mehr da sein, aber zum Teil dachten wir: Was soll's, man hat nichts mehr zu verlieren.“
Rassistische Bemerkungen, die früher in der DDR streng verboten waren, hörte er jetzt öfter. Und es blieb nicht bei verbalen Sticheleien: „Ich war mit einem Kumpel unterwegs und wir haben zwei Freundinnen nachHause begleitet. Plötzlich standen bestimmt zehn Leute um uns herum, haben uns umzingelt. – Ja, was wir mit den Mädchen wollten? – Die Mädchen kannten wir schon vor der Wende und damals sind wir problemlos unterwegs gewesen. Und nach der Wende war es plötzlich so, dass irgendwelche Leute uns einfach angegriffen haben. Ich hab zu meinem Kumpel gesagt: 'Pass auf, das Beste, was wir jetzt machen können, ist einfach wegrennen.‘ Und die Nachbarn, manche waren am Fenster, und keiner hat sich darum gekümmert.“
Bald nach der Öffnung der Mauer beschlossen Clemens und seine Freunde, den Westen zu erkunden. Dort machten sie eine völlig neue Erfahrung: „Der erste Platz, den wir besucht hatten, damals, war der Ku'damm, und das war unglaublich. Man hatte das Gefühl, man wird gar nicht beobachtet. Das war wirklich ein sehr schönes und gleichzeitig komisches Gefühl. Im Osten wusste man immer, man wird beobachtet. Und plötzlich hat sich keiner gekümmert, wer da auf der Straße rumläuft, ob man zum Beispiel schwarz ist.“
Clemens kann inzwischen gelassen in die Zukunft blicken. Nach langem Papierkrieg hat er jetzt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Der kapitalistische Alltag erwies sich als nicht so schrecklich wie ursprünglich befürchtet. Heute fragt er sich, ob nicht die gesamte DDR eine Art riesige „Schule der Freundschaft“ gewesen war, mit ihrer Mischung aus Schutz und Bevormundung. „Ich hatte das Gefühl, es traf nicht nur auf mich, sondern auf fast jeden Ostdeutschen zu, dass die einfach nicht richtig auf das Leben vorbereitet worden sind.“
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