piwik no script img

Laute Schreie sind keine Bagatelle

■ Das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt (BIG) hat in vier Jahren Polizisten sensibilisiert und Gesetzesänderungen zum besseren Schutz der Frauen initiiert

Wenn PolizistInnen zu einer Wohnung gerufen werden, weil Nachbarn laute Schreie gehört haben, dann werden sie zukünftig sensibilisierter reagieren – und das Geschen nicht nur als harmlosen „Ehestreit“ einstufen, sondern vermuten, dass die Frau möglicherweise misshandelt wurde.

Das jedenfalls hofft das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt (BIG), dass gestern nach vier Jahren Modellprojektphase ein positives Fazit zog. Polizisten mit Fortbildungen und einer Checkliste über Gewalt gegen Frauen zu sensibilisieren – nicht nur auf der Streife, sondern schon bei der Annahme des Notrufs – ist eine der wichtigsten Errungenschaften, sagte BIG-Koordinatorin Birgit Schweikert. 1.200 PolizistInnen wurden bisher fortgebildet, alle Berliner PolizistInnen werden ein Handbuch zur Erkennung und dem Umgang mit Gewalttätern und -opfern erhalten.

„Wir müssen in Sachen Gewalt gegen Frauen einen Bewusstseinswandel auf allen gesellschaftlichen Ebenen herbeiführen“, betonte Frauenministerin Christine Bergmann (SPD). BIG sei deshalb so erfolgreich, weil erstmals verschiedensten Behörden, Organisationen und Verwaltungen über Jahre hinweg kontinuierlich zusammengearbeitet und sich ausgetauscht haben. Das Projekt, das zu 60 Prozent vom Bund finanziert wurde und 2,3 Millionen Mark gekostet hat, wird ab dem nächsten Jahr aus einer Clearingstelle bestehen, die überprüfen und begleiten soll, ob alle Maßnahmen auch wirklich wirksam sind.

Dazu gehört, dass bei der Berliner Amtsanwaltschaft ein Sonderdezernat zu häuslicher Gewalt gebildet wurde. Allein zwischen März und Juni diesen Jahres gingen dort 1.881 Anzeigen ein. Bei rund einem Drittel wurde Anklage erhoben. Wie viele Männer tatsächlich verurteilt wurden, ist bisher noch nicht ausgewertet.

Ein großes Anliegen von BIG war auch, dass die gesetzlichen Vorschriften zum Schutz der Frauen wirklich ausgeschöpft werden. Zudem sollte festgestellt werden, ob sie überhaupt ausreichen. So ist eine bundesweite Gesetzesänderung geplant, wonach bei häuslicher Gewalt die Täter sofort der Wohnung verwiesen werden können. Auch das Rückkehrrecht in die Wohnung und Kontaktsperren zur Frau sollen verschärft werden. Dabei soll es egal sein, ob Täter und Opfer in einer ehelichen oder nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben. Bisher können Polizisten nur spontan kurzfristige Platzverweise oder Aufenthaltsverbote erteilen. Langfristig kann nur ein Gerichtsvollzieher den Mann aus der Wohnung verweisen. „Das dauert aber normalerweise bis zu einem Jahr“, so Schweikert. Ein Defizit gebe es noch beim psychosozialen Verhaltenstraining für Täter, das BIG ebenfalls initiiert hat. „Uns wurden noch nicht genügend Täter zugewiesen“, bemängelte Schweikert. Zur wirksameren und schnelleren Unterstützung für geschlagene Frauen gibt es ab heute eine Telefon-Hotline (030/611 03 00), die täglich von 9 Uhr bis 24 Uhr geschaltet ist. Damit sollten zukünftig viel mehr Frauen als bisher erreicht werden und ihnen schnell und unbürokratisch geholfen werden. Julia Naumann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen