Der Gysi kennt kein Halleluja

Reden über Gott und die Welt“ darf an diesem Sonntag noch einmal ein Laie in der Kirche zu Weimar – predigen darf er nicht. Wer schuld ist? Der leibhaftige Gysi!  ■   Von Thomas Gerlach

Die Mächte der Unterwelt in Thüringen? Doch – gottlob! – gibt es den Bischof, die CDU und Freya Klier

Punkt eins: einweichen.

Blasebalg an und die Orgel geschlagen. Strenges Heulen kriecht aus den Pfeifen, windet sich den Altar hinauf, zischt vorbei an Tischkreuz, Kanzel, immer höher, dem Heiland entgegen. Der steht starr mit segnender Hand, eingestaubt, hölzerner Waschbrettbauch, Tuch um Lende und Schulter, und stiert teilnahmslos auf hundert Gläubige, Interessierte, Touristen. Zehn Uhr, Sonntagsgottesdienst in der Jakobskirche zu Weimar. Das Zischen wächst zur Harmonie, Orgel und Kantorin haben Betriebstemperatur erreicht.

Und jetzt das Gesangbuch auf: „All Morgen ist ganz fri-hisch und neu ...“ Zwei Weiblein, faltige Haut, Kopftücher wie Helme, ein orthodoxer Priester im Ornat, Richard aus Denver, Colorado, der Herr von der Goethe-Gesellschaft und all die anderen singen den richtigen Ton herbei „... des Herren Gnad und gro-hoße Treu!“

Am Anfang ist alles ganz frisch und neu. Ideen sind unverbraucht, unverdünnt, glänzen vor Überzeugung und Charme. Wenn die thüringische Puppenstube Weimar zur Kulturstadt Europas aufgeblasen wird, kann eine christliche Brise nicht schaden: „Reden über Gott und die Welt“ – unverdächtig und belanglos kommt das Scherflein der Thüringischen Kirche zum Kulturstadtjahr „Weimar '99“ daher. An 52 Sonntagen sollten „Gastprediger“ aus Kultur, Politik und Wirtschaft die Bibel auswalzen dürfen.

Punkt zwei des Programms: Vorwäsche.

Mit pastoraler Nachdenklichkeit und einer Prise Zerknirschung, versteht sich. Frank Hiddemann, Studienleiter der Evangelischen Akademie Thüringen, wippt auf Fußspitzen zum Altar. „Lasst uns vor Gott unsere Sünden bekennen!“ Kraftlos sinken in den Bänken die Häupter vornüber.

Von der Evangelischen Akademie Thüringen kam die Idee mit den Laienpredigten. Möglichst breit sollte das Spektrum sein. Von Christen war die Rede, von Andersgläubigen und von Religionslosen auch, vor allem interessant sollten sie sein. Namen fielen: Umberto Eco, Jostein Gaarder. Auch bei den beteiligten Gemeinden: Boris Becker, Steffi Graf, Manfred Krug.

„Kyrie eleison! Herr, erbarme Dich!“ Die Kantorin krümmt sich über der Orgel, presst das Manual, die Pedale. Bei den hohen, kitzelnden Tönen geht sie fromm auf Distanz, die dunklen, düsteren Klänge bändigt sie tief über die Tasten gebeugt. Die Orgel flötet den reuigen Schrei, es murmelt die Gemeinde. „Herr, erbarme Dich!“ Geschafft!

Abpumpen der sündigen Lauge.

140 Einladungen an „Persönlichkeiten“ verschickte die Evangelische Akademie, warb um ihr Projekt, wies darauf hin, dass auch Menschen „ohne religiöse Bindung“ mit dabei sein würden. Die Eingeladenen fühlten sich geehrt, oder schwiegen, sagten zu, oder ab. Dass auch „Religionslose“ auf die Kanzel gebeten wurden, regte niemanden auf.

Programmpunkt drei: Hauptwäsche.

„Wir loben, preis'n, anbeten Dich ...“ Die beiden Alten, der Orthodoxe, Richard aus Denver und der Herr von der Goethe-Gesellschaft richten sich auf, Frank Hiddemann kehrt von seinem Ausflug zum Altar zurück.

Geistliches Wasser muss ran! Jetzt kommt die Heilige Schrift. Und jetzt kommt der Auftritt von Elisabeth von Thadden, Goetheforscherin und ZEIT-Redakteurin aus Hamburg, die Prominente des heutigen Sonntag. Die kleine Frau geht entschlossen zum Pult, schlägt die Bibel auf und verliest mit dünner, klarer Stimme das Evangelium. Sie spricht eindringlich, nachdrücklich, auch ein wenig pastoral. Predigen darf sie nicht. Wie alle Eingeladenen seit Februar. Und daran ist der Satan schuld. Er wohnt in Berlin, hat eine Glatze, braucht eine Brille und heißt Dr. Gregor Gysi.

Elisabeth von Thadden muss sich wieder setzen, Frank Hiddemann löst sie ab: „An dieser Stelle ist hier ein Loch.“

Die Hauptwäsche – perdu.

Keine Unruhe, kein Erstaunen, kein Stoßgebet in den elf Bankreihen. Die Gemeinde ist vorbereitet: „Das ist heute kein gewöhnlicher Gottesdienst!“, hat Frank Hiddemann zu Beginn gesagt, jetzt sagt er es wieder. Ein Gottesdienst ohne Predigt. Gysi ist schuld. Es hätte alles so schön sein können. Elisabeth von Thadden muss sich gedulden, sie darf nach dem Gottesdienst eine Rede halten, ihre „Rede über Gott und die Welt“, doch keine Predigt.

Gysi – das ist der Fluch, die Heimsuchung, der Antichrist, dem die Thüringer Christen, mit Umnachtung geschlagen, die Kirchenpforte öffnen wollten. Fast hätten die Mächte der Unterwelt das Regiment in Thüringen übernommen. Doch – gottlob! – es gibt den Bischof, die CDU und Freya Klier. Warum muss Goethe seinen 250sten ausgerechnet in einem Wahljahr feiern? Die Große Koalition in Erfurt zerbröselte, die PDS ist mächtiger denn je, in Schwerin sitzen die Gottlosen schon mit am Regierungstisch. Und in Thüringen? Bloß nicht dran denken! Schnell ein Stoßgebet und um höhere Erkenntnis bitten! Michael Krapp (CDU), damals Chef der Thüringer Staatskanzlei, wurde sie als erstem zuteil: Krapp, der als Prediger zugesagt hatte, schrieb im Januar: „Ich erwarte von Politikern aus Respekt vor religiösen Gefühlen Zurückhaltung.“ Gottesdienst dürfe sich nicht durch Beliebigkeit selbst in Frage stellen. „Das betrifft auch die Öffnung für nicht religiös gebundene Prediger.“ Schrieb's und sprang ab. Da wurden dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU Thüringen die Augen aufgetan: „Eine Predigt ist die Auslegung der biblischen Botschaft, die glaubwürdig nur dann vertreten werden kann, wenn man sich als Christ bekennt.“ Wer solch geistliches Hochgebirge erklimmt, kann den Fürst der Finsternis ruhig beim Namen nennen: „Gysi“.

„Herr, Deine Schritte sind langsam und Deine Geduld ist größer als unser Herz!“ Frank Hiddemann steht wieder am Pult. Der Gottesdienst ist aus dem Takt geraten. Zu schnell kommt der Segen, gleich ist Schluss, und doch wieder nicht. Die Ruhe ist weg. Die Waschmaschine rappelt. Die Hauptsache fehlt. Alles läuft unrund. Ein Wäsche ohne Pulver, ohne Hitze. Lau. Alle stehen, alle singen, seufzen: „Verleih uns Frieden gnädiglich!“ Aus. Der Gottesdienst ist wirklich zu Ende.

Jetzt kommt ein weltlich Ding. Jetzt darf Elisabeth von Thadden oder wer auch immer nach vorn. Zum letzten Mal diesen Sonntag Volkhard Knigge, Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, davor Brandenburgs Ex-Sozialministerin Regine Hildebrandt, Sängerin Bettina Wegner, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner. Bis auf Gregor Gysi.

Im Januar liefen im Freistaat die Leitungen heiß: Von Erfurt nach Eisenach, von Eisenach nach Weimar und zurück nach Erfurt. Es war die Zeit, da gläubige Christdemokraten schlecht schliefen aus Angst vor einer rot-roten Regierung in Erfurt. Wenn Gysi auf eine Kanzel klettern darf, sitzt er bald auch am Regierungstisch. Und die Christen auf der Oppositionsbank. Minister und Abgeordnete (CDU) gerieten in Aufruhr und stiegen aus, ein Kirchenmann sagte ab („Liebe Herren und Brüder ...“). Der damalige Landtagspräsident (CDU) brillierte in einer Depesche an den Bischof auf offiziellem Briefbogen des Parlaments mit ungeahnter theologischer Virtuosität und flehte „um ein geistliches bischöfliches Wort“.

Keine Predigt. Schuld daran ist der Satan. Er wohnt in Berlin, hat eine Glatze, braucht eine Brille und heißt Dr. Gregor Gysi

Und aus Berlin kam eine Epistel von Freya Klier. Die frühere Bürgerrechtlerin besaß in jenen Tagen prophetische Gabe und schrieb, wovon selbst Gregor Gysi wohl noch nichts wusste. Sie weissagte, was der „Demagoge“ Gysi, der „wohl Gerissenste unter den falschen Propheten“ den arglosen Thüringer Schafen predigen würde: ein Paradeis namens DDR. Sie kündigte der Thüringer Kirche die Freundschaft, falls der Versucher mit der Frohen Botschaft die Gemeinde verwirren dürfe.

Da war Heulen und Zähneklappern. Auch beim Bischof. Erlöse uns von dem Übel, sonst lösen wir uns von Dir!, raunte, wisperte, waberte es vom mächtigen Erfurt herüber ins kleine Eisenach, hinein in die Gemächer des Bischofs. Flugs sprang der auf, lud Gysi aus, setzte die Predigten ab, schlug eine neue Reihe „Sonntagsreden“ vor, nach dem Gottesdienst, und lud Gysi auch dazu aus. Natürlich hat der Bischof für all diese Befreiungsschläge den Landeskirchenrat, oberstes Gremium seiner Kirche, vorgeschickt. Zwar meinte der noch zuvor: Die Auswahl der Redner und die Verantwortung für das Ganze liegt bei den Gemeinden. So stellten die Räte fest. Doch damals lag das Land in Wirrnis.

Elisabeth von Thadden steht hinter dem Pult. Die Hutzelweibchen stecken die Köpfe zusammen, Richard aus Denver strahlt wie ein Erlöser, ein weißhaariger Herr schleicht sich in eine vordere Reihe. Predigtzeit ohne Predigt. Die Frau am Pult entfaltet die Geschichte über die wahren Verwandten Jesu. Eine knifflige Sache. Sie redet über Jesus und dessen Verhältnis zu Mutter und Geschwistern. Jesus sagt sich von seinen engsten Verwandten los. „Muss denn auch Jesus noch in die Quere kommen?“ Mit feiner, wirksamer Stimme fragt Elisabeth von Thadden sich selbst, dann die Zuhörer, balanciert zwischen konservativer Familienfrömmigkeit und postmoderner Bindungslosigkeit, gelangt zu Goethes Wahlverwandtschaften, spricht über ihre eigene Familie. Freundlich, unerwartet offen, immer qualifiziert, exegetisch brillant. Die Rede ist aus. Applaus!

Der schlohweiße Herr, der sich nach vorn geschlichen hat, klatscht heftig, andere gedämpft, die Hutzelweibchen hocken still. Zu dumm. Wäre doch der Bischof hier. Fürwahr, eine gute Predigt. Wenn es denn eine hätte sein dürfen. Es war eine Rede. Was ist schon eine Rede?

Ja, gute Werke werden belohnt: Die Thüringer CDU erhielt bei den Landtagswahlen im September die absolute Mehrheit. Die Bekenner im Glaubenskampf sitzen in Erfurt wieder in Ministersesseln. Für die Christdemokraten sind die schlaflosen Nächte vorbei. Ach ja, ob Steffi und Boris überhaupt eingeladen wurden, weiß heute keiner mehr. Manne Krug dagegen hat gleich abgesagt, der Schlaganfall mache ihm noch zu schaffen. Andere sind aus Frust abgesprungen. Thüringens oberster Verfassungsschützer Helmut Roewer zum Beispiel. Für seine „heiter besinnliche Predigt“ sah er keinen Raum mehr. Wenigstens empfahl er dem Bischof ein Lutherwort als Therapie: „Aus einem verzagten Arsch kann kein fröhlicher Pfurz kommen.“

Schleudern, die Wäsche ist rein – theologisch zumindest.