■ Einen Tag nach der „Flieh oder stirb“-Drohung interpretieren die russischen Militärs ihr Flugblatt an die Bevölkerung Grosnys um. Die Menschen fliehen trotzdem. Wie lange der Tschetschenien-Krieg noch dauert, hängt auch von den Wahlen in Russland ab: Die Generäle und ihr Ultimatum
„Als Terrorist und Bandit wird behandelt, wer in der Stadt bleibt. Artillerie und Luftwaffe werden sie vernichten. Gespräche gibt es keine mehr. Alle, die die Stadt nicht verlassen, werden liquidiert“, stand auf dem Flugblatt, das russische Flieger am Montag über den belagerten Ruinen Grosnys abgeworfen hatten. Stichtag 11. Dezember.
Sollte die Drohung „Flieh oder stirb“ nun doch nicht als ein Ultimatum gedacht gewesen sein? Nach Lesart der russischen Militärs kam der Inhalt der Wurfsendung bei den Adressaten in Grosny und der Weltöffentlichkeit nicht so an, wie er eigentlich gemeint war. Falke und Generalstabschef Waleri Manilow unterstrich gestern in Moskau, das Flugblatt sei ein Versuch „psychologischer Einflussnahme“ und „ein Akt der Humanität gegenüber der Zivilbevölkerung“. Der vierschrötige Kommandeur der vereinigten Truppen im Nordkaukasus, Wiktor Kasanzew, formulierte es kurz und bündig: „Den Bewohnern von Grosny wurde kein Ultimatum gestellt.“ Ein zynisches Spiel eines zynischen Armeeapparates, der inzwischen völlig autonom waltet und schaltet. Allerdings kann sich die Armeeführung darauf verlassen, dass ihre Massnahmen im Nachhinein von der Politik gerechtfertigt werden.
Unterdessen berichteten tschetschenische Quellen, der Strom der Flüchtlinge aus Grosny wachse seit Montag stetig an. Wie viele Zivilisten sich noch in den Trümmern der Hauptstadt aufhalten, ist nicht bekannt. Die russische Seite schätzt, dass es zwischen 15.000 und 40.000 sind. Der Sprecher der islamistischen Rebellen, Mowladi Udugow, sprach demgegenüber von 50.000 bis 80.000.
Sollte die Armee ihre Drohung – trotz Dementi – wahrmachen, werden vor allem Arme, Kranke, Alte und Kinder die Leidtragenden sein. Viele hat das Ultimatum indes noch gar nicht erreicht, da sie die Kellerräume wegen des Dauerbombardements nur selten verlassen. Gestern zeigte ein privater russischer Fernsehsender zum ersten Mal erschreckende Bilder von vor sich hin vegetierenden Kindern in Grosnys Katakomben.
Russische Medien vermuten, die Militärs wollten zunächst Grosny vom Erdboden tilgen und erst danach Bodentruppen in die Trümmerhalde schicken. Seit Wochen kursieren unterdessen Gerüchte, die Armee setze in Tschetschenien neue Waffen ein. Darunter eine Benzinbombe, die in der Luft explodiert und alles Leben darunter verbrennt. Angeblich fielen am Stadtrand von Grosny vorgestern zwölf Menschen dem Einsatz dieser heimtückischen Waffe zum Opfer. Ähnliche Bomben setzten auch die Amerikaner im Vietnamkrieg ein.
Derweil zeigt sich der russische Generalstab zuversichtlich, die Operation Tschetschenien bis spätestens Neujahr zu Ende führen zu können. Beobachter mutmaßen, den Militärs sei sehr viel daran gelegen, Grosny noch vor den Parlamentswahlen am 19. Dezember einzunehmen. Die Generalität spekuliert darauf, mit einer weiteren Erhöhung des Wehretats, der ohnehin schon von Premier Wladimir Putin aufgestockt wurde, belohnt zu werden.
Der Logik des vom Kreml entfachten kaukasischen Erbfolgekrieges widerspricht indes ein frühzeitiges Ende des Gemetzels. Schließlich wurde der Feldzug inszeniert, um den Präsidentschaftskandidaten der Jelzin-Familie, Wladimir Putin, bis zu den Wahlen im Sommer populär zu machen. Die Strategie ist bisher auch aufgegangen. Kein russischer Politiker genoss jemals in der Bevölkerung tieferes Vertrauen. Ein jähes Ende des Waffengangs würde die Allmacht des nationalen Retters, als der er zur Zeit unbestritten figuriert, auf ein menschliches Maß reduzieren. Darin wittert der Kreml eine Gefahr. Deshalb scheint es ziemlich wahrscheinlich, dass die Hofkamarilla um Boris Jelzin den Feldzug fortsetzen wird. Insofern kommt es den Moskauer Strategen gut zupass, dass die Hauptstreitmacht der islamistischen Rebellen inzwischen in der Bergregion ihr Lager aufgeschlagen hat. In der entvölkerten Ebene kann die Armee so von Erfolg zu Erfolg eilen.
Stutzig macht überdies, warum die Armee den Ring um Grosny nicht lückenlos geschlossen hat. Nach wie vor können die Rebellen die Stadt im strategisch wichtigen Süden verlassen. So soll sich der tschetschenische Präsident Aslan Maskhadow zwischen dem Bergdorf Schali und der Festung Grosny ungehindert hin und her bewegen. Seine Familie indes befindet sich nach Angaben von Putin in russischer Gewalt. Sie würde vom Inlandsgeheimdienst FSB festgehalten, sagte Putin gestern.
Maskhadow selbst kündigte am Wochenende bereits im tschetschenischen Fernsehen an: „Wir ziehen uns weitgehend aus Städten und größeren Siedlungen zurück und holen die russischen Truppen in die Berge und werden nun einen Guerillakrieg führen“.
Klaus-Helge Donath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen