: Die schönen Tage von Seattle
■ Ohne das Internet wären die Demonstrationen gegen die Konferenz der WTO nicht möglich gewesen. Jetzt wird der Protest gegen die Globalisierung des Kapitals selbst global
Der Revolutionskalender des Internets hat seine eigenen Feiertage. Der Fall des „Communications Decency Act“ gehört dazu oder die Demonstrationen in Belgrad von 1996, die Computerfraks in die ganze Welt übertrugen. Und als der Sonderermittler Starr seinen Bericht über Bill Clinton und Monica Lewinsky ins Web stellte, noch bevor er ihn den Fernsehsendern zukommen ließ, war das Internet zum ersten Mal auch im öffentlichen Bewusstsein aufgestiegen aus der Bastlerecke. Es war zum Weltmedium der ersten Wahl geworden, von dem alle anderen nur noch abschreiben konnten.
Die Bewährungsprobe jedoch kam am 30. November 1999 in Seattle. Das Internet hat sie glänzend bestanden, nur nicht so, wie sich das die traditionellen Medienkonzerne vorstellen, wenn sie Strategien für den E-Commerce entwikkeln. Es kam alles ganz anders. Legionen von Reportern standen fassungslos vor den Massendemonstrationen gegen die Ministertagung der Welthandelsorganisation WTO. Damit hatten sie zuletzt gerechnet, und bis heute haben sie Mühe, zu erklären, wie es zu diesem zum Teil gewaltsamen, aber offensichtlich dennoch von einer breiten Welle der Sympathie getragenen Protest kam. Bill Clinton und auch der deutsche Bundeskanzler Schröder stammelten ein paar Worte des Verständnisses – die Konferenz konnten sie nicht mehr retten. Sie ging ohne offizielles Ergebnis zu Ende.
Im Internet jedoch hat sie jetzt erst richtig begonnen. Das Scheitern der WTO in Seattle ist ein neuer Feiertag im Internetkalender. Denn das Bündnis überaus disparater Organistionen und Aktivisten, das sie auf der Straße zu Grabe getragen hat, ist im Internet entstanden. Dutzende von Websites und Mailinglisten haben den Protest seit Monaten vorbereitet. Wer sie gelesen hat, konnte vom Aufstand in der analogen Welt nicht überrascht sein. Allerdings – und das unterscheidet sie vor allem anderen von den kommerziellen Produkten der Medienkonzerne – muss man sie tatsächlich lesen. Es genügt nicht, mit der Maus darin herumzuklicken. Sie enthalten lange Papiere und komplexe Analysen über weltwirtschaftliche Zusammenhänge, und anders als die WTO, die sich ratlos vertagt hat, scheint der digitalisierte Protest seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht zu haben.
Zu den führenden Adressen gehört zweifellos die politische Monatsschrift Z, die von einer Theatermacherin in Massachusetts gegründet worden ist. Für Seattle hat ZMagazine gleich eine eigene Website unter www.lbbs.org/CrisesCurEvts/Globalism/GlobalEcon.htm eingerichtet. Sie macht nicht nur prominente Aufsätze, etwa von Noam Chomsky oder Ananda Shiva, zugänglich. Die Linkliste ist so reichhaltig, dass sich von hier aus leicht das Netzwerk einer neuen, seit dem Erfolg von Seattle sehr selbstbewussten Protestbewegung erschließt. Sie ist gewiss in den USA entstanden, und die Hauptlinien der gelegentlich ausufernden Debatten orientieren sich noch überwiegend an Positionen der amerikanischen Linken und der amerikanischen Umweltschützer. Beide verstehen die Globalisierung unter den Vorzeichen der WTO als Versuch, die Vorherrschaft des amerikanischen Kapitals weltweit durchzusetzen. Die Folgen werden beschrieben, Armut in der Dritten Welt und zu Hause, Umweltschäden, genetische Manipulation und politische Unterdrückung – Themen und Argumente also, die keineswegs neu sind. Neu ist nur ihre Funktion. So, wie das Internet aus der Ecke der Computerfreaks aufgestiegen ist, so emanzipieren sich die Debatten aus dem Dunstkreis politischer Zirkel, die sich bloß im Hinterzimmer zu radikalen Sitzungen treffen. Noch die obskurste Meinung gewann eine bislang unbekannte Resonanz. Sie wurde durch das Netz selbst global, dadurch keineswegs wahrer, wohl aber korrigiert und gemessen an den Maßstäben, die sich in den eher theoretischen Beiträgen wie auch den Aufrufen zur Aktion immer weiterentwickelt haben.
Häufig genug scheitern Onlinediskussionen an persönlichen Beschimpfungen. Der Gegner WTO aber, der in den USA eher als in Europa als eine Art Generalagentur größenwahnsinniger Konzerne empfunden wird, scheint die Debatte kanalisiert zu haben. Protektionistische Argumente von Gewerkschaften oder selbst von konservativen Repräsentanten des politischen Systems wie Pat Buchanan sind mit großer Gelassenheit geprüft, oft kritisiert aber nie völlig ausgeschlossen worden.
Auf diesem bemerkenswert hohen Niveau wird die Debatte heute auch ohne den Anlass einer Mobilisierung weitergeführt. Augenzeugenberichte über die Demonstrationen und Diskussionen um Gewalt und Wandalismus sind hinzugekommen. Die gewaltsamen Ausschreitungen werden überwiegend verurteilt und Indizien dafür zur Diskussion gestellt, dass sie von Provokateuren der Polizei angezettelt worden sind: Zum ersten Mal hatte eine politische Debatte im Internet derart spektakuläre Folgen. Diese Erfahrung ist neu, und auch sie muss reflektiert werden.
Amerikanische Kommentatoren warnen davor, die Krise der WTO zu unterschätzen. Sie rechnen mit weiteren Protesten auch außerhalb der USA. Tatsächlich ist das Onlinebündnis von Seattle heute dabei, seinen eigenen, amerikanisch dominierten Horizont zu erweitern. Die Website „n30“ („30. November“), die ursprünglich nur für Seattle eingerichtet worden war, begann schon während der Konferenz über kleine und kleinste lokale Aktionen in aller Welt zu berichten, die kaum je von der lokalen Presse wahrgenommen wurden. Jetzt arbeiten die Webmaster an internationalen Ausgaben in mehreren Sprachen. Noch diese Woche soll die deutsche Version unter come.to/n30-de freigeschaltet werden.
Der offiziellen WTO-Website hat es bereits heute die Sprache verschlagen. Das jüngste Dokument, das unter www.wto.org abgerufen werden kann, stammt vom 1. Dezember. Es handelt sich um eine Rede des Konferenzpräsidenten Mike Moore. Ein Kernsatz lautet: „Ich bin zutiefst entsetzt darüber, dass manche Leute sagen, die WTO sei undemokratisch.“
Niklaus Hablützel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen