: Der ganze Grass in Ton
■ Wenn es nach Bürgermeister Henning Scherf geht, entsteht im „Haus Vorwärts“ ein AV-Archiv rund um Günter Grass. Gestern war der Literat zu Besuch an der Weser
Nach Berlin und Marbach könnte Bremen die dritte deutsche Stadt werden, die die Werke des jüngst gekürten Literaturnobelpreisträgers Günter Grass systematisch archiviert: Bürgermeister Henning Scherf ist, wie er gestern der Presse erklärte, offenbar höchstpersönlich gewillt, in Bremen die Gründung einer Grass-Stiftung auf die Beine zu stellen. „Die Idee gewinnt langsam Figur und Gestalt“, so Scherf. Im Senat herrsche über das Vorhaben Einigkeit, und auch die ersten Gespräche mit möglichen Mäzenen aus der Kulturszene, aber auch der Handelskammer, seien bereits gelaufen.
Scherf wollte allerdings weder konkrete Namen noch Summen nennen. Wie Senatssprecher Klaus Schloesser mitteilte, habe man am Dienstagabend im Anschluss an eine Lesung des Nobelpreisträgers im Kreis von etwa 30 Leuten „bei einem ordentlichen Glas Rotwein zusammengesessen“, die Idee unter die Leute gebracht und sei auf eine Menge Vorschusslorbeeren gestoßen.
Nach Scherfs Vorstellungen solle die Stiftung, die etwa sechs bis sieben Mitarbeiter benötige, hinter dem Dom im so genannten „Haus Vorwärts“, das der Bremer Senat sich erst vorgestern gesichert hatte, untergebracht werden. Dort solle das erste audiovisuelle Grass-Archiv der Republik entstehen - mithilfe unzähliger über lange Jahre von Radio Bremen archivierter Interviews und Lesungen, Material des Verlegers, aber auch aus dem Besitz des Schriftstellers. „Ich habe das ganze Haus voll mit Bändern“, lachte der Pfeife rauchende Schriftsteller im Sitzungssaal des Senats, „und ich werde mir meine eigenen Bänder nie wieder anhören.“ Scherf: „Wenn es gelingen würde, dieses wertvolle Material zugänglich zu machen, wäre das ein großer Schritt.“
Grass selber setzte aber noch eins drauf: Seiner Vorstellung nach könne in Zusammenarbeit mit Bremens Partnerstadt Gdansk (ehemals Danzig), die zugleich die Heimatstadt des Schriftstellers ist, eine Art Grass-Archiv aus polnischer Sicht entstehen. „In Polen, aber auch im sonstigen Ausland ist das Echo auf meine Bücher völlig anders als hier“, erzählte Grass, „etwas wie ,Ein weites Feld' wird dort ausschließlich nach literarischen Gesichtspunkten beurteilt.“
Auch der „ausländische Blick“ auf den deutschen Nobelpreisträgers wäre eine Novität: Bisher werden in der Berliner Akademie der Künste Manuskripte und Ähnliches gehortet, im Marbacher Literatur-Archiv Zeitungsartikel und Rezensionen vorwiegend aus Deutschland. Scherf geht davon aus, dass sich sowohl die Bremer Universität als auch die Internationale Privat-Universität an der Stiftung beteiligen würden.
Mit dem „Bremen-United-States-Center“, das ebenfalls im Haus Vorwärts untergebracht werden soll, würde das Archiv offenbar nicht kollidieren. Scherf: „Wenn Sie sich das mal genauer angucken, werden Sie feststellen, dass wir da praktisch eine ganze Straße zur Verfügung haben.“ Auch ein Café solle dort entstehen. „Wir wollen daraus etwas sehr Kommunikatives machen.“ Im Anschluss an das Pressegespräch schritten Grass und Scherf dann auch gleich zur Ortsbesichtigung in der Sandstraße.
Und wo gestern schon einmal ein echter Nobelpreisträger in der Stadt war, hatten selbst die Journalisten große Fragen parat: „Herr Grass“, wollte einer wissen, „wenn Sie auf das vergangene Jahrtausend zurückblicken, was erscheint Ihnen denn als das größte Ereignis?“ Und Grass plauderte frei von der Leber über die Errungenschaften der europäischen Aufklärung, dem gelungenen Versuch, sich mithilfe der Rennaissance aus den „Banden des Mittelalters“ zu befreien.
Viel lieber allerdings antwortete er, der nach seinem Austritt wegen des Asylkompromisses inzwischen wieder in die SPD eingetreten ist, auf Fragen nach den jüngs-ten Parteispenden- und Bestechungs-Affären in CDU und SPD. Im Vergleich zu der CDU, die mit der Demontage des Denkmals Kohl „fast schon literarischen Stoff“ biete, nähmen sich die kleinen Entgleisungen des Herrn Glogowski doch eher „mickrig“. „Wenn die CDU zulangt, hat das eher Format.“
Die Wirkung der jetzt zutage getretenen Spendenaffäre bezeichnete Grass vor allem für die neuen Bundesländer als „verheerend“. Die Erwartungen und Hoffnungen, die von dort aus mit der Wende und der Demokratie verknüpft worden seien, würden jetzt zum wiederholten Mal enttäuscht. Zu seiner eigenen Partei wollte sich Günter Grass, der kürzlich in einem Interview eine Lanze für Oskar Lafontaine gebrochen hatte, weit weniger kritisch äußern. Schließlich ist bald Weihnachten und der Nobelpreisträger hofft auf ein paar Tage Ruhe: Der Termin im Bremer Rathaus war der letzte in diesem Jahrhundert.
Jeannette Goddar
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