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Kurz vor dem Ruhestand

■ Claus Peymanns erste Inszenierung am neuen Berliner Ensemble ist zwanzig Jahre alt

Gehört man zu den Menschen, denen Helmut Kohl die Gnade der späten Geburt attestierte, dabei jedoch zu einer Generation, die weder mit Kohl noch seiner Idee von Gnade etwas zu tun haben wollte, hatte man trotz eines durchaus apokalyptischen Gesamteindrucks vor zwanzig Jahren eine simple Hoffnung. Sie hatte mit dem Rad der Zeit zu tun, das man auf der Straße gerade umzulenken suchte. Wenigstens in einer Beziehung, so die Hoffnung im Rausch der Jugend, würde einem die Zeit von selbst in die Hände spielen: Die Nazis, das schien eine Frage von Alter und Biologie, würden bald aussterben. Noch gab es Menschen wie Hans Filbinger, der als Marinerichter noch nach der Kapitulation des „Dritten Reiches“ Todesurteile gefällt hatte und nun baden-württembergischer Ministerpräsident war. Aber die Zellzersetzung war gegen sie.

Thomas Bernhard hat 1979 mit „Vor dem Ruhestand“ ein bitteres, feines Portrait von zwei anständig integrierten Altnazis geschrieben. Rudolf Höllerer, Ex-SS-Offizier und Lagerkommandant, tauchte nach dem Krieg zehn Jahre unter, um dann unbehelligt Gerichtspräsident zu werden; seine Schwester Vera führt ihm den Haushalt, massiert ihm die Füße und bestätigt, dass er stets alles für das Vaterland getan hat. Einmal im Monat gönnt man sich einen Kunstgenuss, einmal im Jahr eine Geburtstagsfeier für Himmler.

Störfaktor im trauten Naziglück ist allein Schwester Klara, die „widerliche Literatur“ und „diesen Zeitungsschmutz“ liest, ansonsten meist angewidert schweigt. Dieses Schweigen irritiert Rudolf und Vera zutiefst; sie hassen die von einem Bombensplitter gelähmte Schwester dafür und erwähnen in ihren ungebrochenen bernhardschen Redeflüssen etwa alle 15 Minuten die Möglichkeit, Krüppel in eine Anstalt abzuschieben. Doch das kommt nicht in Frage, denn die Familie muss „eine Verschwörung wider den Ungeist des Lebens“ bilden. So trägt Rudolf heute Uniform, Vera bindet sich blonde Zöpfe, und gemeinsam blicken sie ins Fotoalbum, wo sich Nackedeis neben KZ-Insassen tummeln.

Claus Peymann richtete 1979 die Uraufführung dieser „Komödie von deutscher Seele“ in Stuttgart ein. Die hoch gelobte Produktion mit Traugott Buhre, Eleonore Zetzsche und Kirsten Dene nahm er mit nach Bochum; 1999 richtete er sie in gleicher Besetzung noch einmal für das Wiener Burgtheater ein. Nun ist sie die erste Eigeninszenierung, die Peymann am BE zeigt. Und so entlarvend Bernhards Text ist, so feinfühlig, wie Peymann ihn auf die Bühne brachte, so großartig, wie Buhre, Zetzsche, Dehne spielen, wirkt der Abend doch seltsam müde. Die Diskussion um die ewiggestrigen Alten wurde vor 20 Jahren geführt; heute – nach der ernüchternden Feststellung, dass sich Nazismus nicht biologisch erledigt – muss man junge Neonazis mitdenken. Das dies nicht geschieht, vermittelt den Eindruck, mit „Vor dem Ruhestand“ dem modernen Theaterantiquariat einen Besuch abzustatten. Christiane Kühl

„Vor dem Ruhestand“ wird erst wieder im Februar am Berliner Ensemble gezeigt.

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