Unflätige Ausdrücke im Plauderton

■ Weder frisch noch frech, noch frei: Beim erotisch gemeinten „Goethe-Abend“ rüttelt das Thalia-Ensemble nur mit Samthandschuhen am Denkmal des Geheimrats

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. So kennen wir unseren lieben alten Goethe: moralisch einwandfrei und wie geschaffen fürs Poesiealbum. Nicht ganz so jugendfrei gibt sich Deutschlands bekanntester Dichter allerdings in seinen Liebesgedichten. Schon im November hat das Thalia Theater in der anlässlich seines 250. Geburtstages ausgerufenen Goethe-Nacht so manchen zotigen Vers deklamiert. Beim neu inszenierten Goethe-Abend mit dem braven Titel Mein lieber Herr Geheimrat! geht es jetzt ausschließlich um des Dichters Liebesleben. In Gedichten, Briefen, Liedern und Texten spricht zu uns der junge Frauenheld, der reife Erotomane, der unglücklich Liebende und alterstraurig Sehnende – und der pantoffelige Ehemann.

Schon lustig, was für einen infantil-langweiligen Briefwechsel der als „Betthasi“ titulierte Geheimrat mit seiner Ehefrau Christiane Vulpius geführt hat, die von großer Wäsche und Gartenarbeit berichtet. Doch so facettenreich Goethes Oden an die Liebe auch sein mögen – auf der Bühne des Thalia Theaters sehen wir meist nur gemütliches Puschenkino. Sechs Schauspieler des Ensembles rezitieren und deklamieren in Begleitung eines Pianis-ten und einer Cellistin (die im durchsichtigen Kleid und barfuß als einzige Erotik verströmt) in gediegener Abendrunde zwischen Klavier und Kerzenständer meist unbekannte Texte des Geheimrats. Und trotz der Fülle von unflätigen Ausdrücken kommt dabei vor allem eins auf: gepflegte Langeweile.

Wie ist das möglich? Will Quadflieg liest im Sitzen die Hymnen des 18-Jährigen an seine erste Liebe Annette vom Blatt ab, Peter Striebeck rezitiert im Plauderton über Sehnsucht und Begierde. Da helfen auch die anfänglich einfließenden kritischen Stimmen zu Goethe nicht über den Eindruck hinweg: Hier wird mit Samthandschuhen am Denkmal des „lieben Herrn Geheimrat“ gerüttelt. Und wenn ein bisschen Putz abbröckelt, dann in so kleinen Portiönchen, dass es nur kurz aufstaubt. Wenn Quadflieg ein Gedicht aufsagt, in dem davon die Rede ist, dass Goethe eine Frau verlassen „muss-te“ und Marina Wandruszka spitz nachhakt: „musste?“, dann ist das schon der Gipfel der ironischen Infragestellung.

Permanent wabern Nebelschwaden im Hintergrund der Bühne und suggerieren eine Leidenschaft, die nicht aufkommen will. Regisseur Siegfried Bühr hält sich streng an die Chronologie, szenisch umgesetzt werden die Texte kaum. Und wenn, dann hoffnungslos albern mit schief aufgesetzter Dichter-Perücke und Slapstick-Sturz. Einen Höhepunkt der (verhinderten) Erotik gibt es immerhin: wenn Achim Buch, der als einziger frisch, frech und frei Goethe in den Mund nimmt, auf dem Klavier sitzend einen mangels Stehvermögen gescheiterten Verführungsversuch des alternden Goethe deklamiert. Wie er sich dabei langsam die Ärmel hochkrempelt, das hat echten Sexappeal. Und ist tausendmal erotischer als alle Wortkaskaden. Karin Liebe

weitere Aufführungen 19., 21., 25., 26., 29. Januar, 3. Februar, 20 Uhr, Thalia Theater