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„Geistiger Verfall“

Die spanische Presse veröffentlicht das geheime Gutachten über Pinochet

Madrid (taz) – Das Geheimnis des britischen Innenministers Jack Straw ist keines mehr. Kaum wurde er vom Londoner Revisionsgericht gezwungen, die medizinischen Gutachten über Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet den Ländern zugänglich zu machen, die seine Auslieferung verlangen, da stehen die eigentlich nach wie vor vertraulichen ärztlichen Berichte auch schon in der Presse. Mehrere spanische Tageszeitungen veröffentlichten gestern lange Auszüge aus den geheimen Gutachten.

„Der General weist schwere geistige Verfallserscheinungen auf, die weit über das für sein Alter übliche Maß hinausgehen“, heißt es im von Dr. Maria A. Wyke erstellten psychologischen Teil des Gutachtens, das Innenminister Straw zum Anlass nahm, laut über Pinochets Freilassung nachzudenken. Zwar habe der Untersuchte einen „überdurchschnittlichen Wortschatz“, was auf die „Intelligenz vor der Krankheit schließen lässt“, doch die „restlichen Ergebnisse zeigen, dass ein erheblicher Verfall der geistigen Funktionen stattgefunden hat“. Der Senator auf Lebenszeit könne sich selbst nach wiederholtem Erzählen einer einfachen Geschichte nur an wenige Details erinnern. „Meiner Einschätzung nach ist er nicht fähig, einem komplexen gerichtlichen Verfahren zu folgen“, lautet Wykes Ergebnis.

Dieses psychologische Gutachten begleitet die Arbeit eines dreiköpfigen Ärzteteams, das am 5. Januar im Londoner Northwick Park Hospital Pinochets Gesamtzustand untersuchte. Demnach ist der zu beobachtende „zunehmende geistige Verfall“ das Ergebnis einer fortgeschrittenen Diabeteserkrankung. „Pinochet wäre in der Lage, einem Verfahren beizuwohnen, aber da die Erkrankungen der Blutgefäße im Gehirn trotz entsprechender Behandlung zunehmen, ist es wahrscheinlich, dass seine körperlichen und geistigen Verfallserscheinungen fortschreiten“, heißt es. Die Zuckererkrankung des Generals habe in den letzten Monaten wiederholt zu leichten Schlaganfällen geführt. Der General könne „nur noch 200 Meter gehen“ und leide unter 16 Krankheiten von Asthma bis zu einem Herzfehler.

Die Gutachten liegen mittlerweile den zuständigen Gerichten in Spanien, Belgien, Frankreich und der Schweiz vor. Sie alle haben die Auslieferung des Ex-Diktators beantragt und können jetzt bis zum Dienstag kommender Woche Einwände gegen den ärztlichen Bericht vorbringen. Vorrang hat dabei der spanische Richter Baltasar Garzón, auf dessen Initiative Pinochet vor über 16 Monaten in London festgenommen wurde.

Reiner Wandler

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