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Zwangsarbeiter? Nicht zuständig

■ Das Bundesarbeitsgericht verweist ehemalige NS-Zwangsarbeiter an die Zivilgerichte. In der heutigen 9. Entschädigungsrunde geht es vor allem um die Verteilung der Gelder

Die Verteilung der Gelder sei ein „extrem schwieriges Thema“, ein Ende der Verhandlungen noch nicht in Sicht

Erfurt/Berlin (dpa/AP/rtr/AFP) – Frühere NS-Zwangsarbeiter müssen Ansprüche auf Lohn oder Entschädigung vor den Landgerichten in Deutschland geltend machen. Die Arbeitsgerichte sind nicht zuständig, entschied gestern das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt. Zur Begründung verwiesen die Richter auf das damalige Zwangsverhältnis, das nach heutigem Verständnis mit einem Arbeitsverhältnis unvereinbar sei. Er sei aber sicher, dass auch die Zivilgerichte „zu einer gerechten Entscheidung kommen können“, sagte der Vorsitzende Richter Gert Griebeling.

Einen Verweis der Klagen an die Verwaltungsgerichte lehnte das Gericht dagegen ab. In diesem Fall hätten nicht mehr die Unternehmen, sondern nur noch der Staat von den rund eine Million noch lebenden Zwangsarbeitern zur Verantwortung gezogen werden können. (5 AZ B 32/99) Zur Verhandlung standen sechs Fälle von einstigen Betroffenen aus der Ukraine und aus Polen unter anderem gegen die Firmen Siemens, Opel und Mauser-Werke.

Die Vertreter der ehemaligen Zwangsarbeiter zeigten sich von dem Urteil enttäuscht. Sie hatten auf die Arbeitsgerichte gehofft, um die Ansprüche der alten und oftmals verarmten Kläger schneller und kostengünstiger durchzusetzen. Nun wird wieder kostbare Zeit verstreichen.

Das gilt auch für die heute anstehende neunte offizielle Verhandlungsrunde über die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter in Berlin. Aller Voraussicht nach wird es nicht zu einem Abschluss kommen. Ein Ende der Gespräche sei noch nicht in Sicht, hieß es aus Verhandlungskreisen. Ein bis zwei weitere Runden sind veranschlagt.

Dreh- und Angelpunkt ist die Frage nach der Verteilung der Gelder. Teilnehmer sprachen von einem „extrem schwierigen Thema“. Der Vorgang sei so kompliziert, dass er vermutlich nicht an einem Tag gelöst werden könne. Allerdings solle bereits im Herbst mit der Auszahlung der Gelder begonnen werden. Ob dies gelingen wird, ist indes fraglich.

Nach entscheidenden Fortschritten beim letzten Treffen in Washington hatte die deutsche Seite auf die Anrechnung bisheriger staatlicher Leistungen auf künftige Zahlungen der Stiftungen verzichtet. Dies war eine der zentralen Forderungen der Opferverbände. An den heutigen Gesprächen sind Vertreter Deutschlands, der USA, mehrerer mittel- und osteuropäischer Staaten und der Opferverbände beteiligt. Für die Entschädigung sollen zehn Milliarden Mark bereit gestellt werde – jeweils zur Hälfte vom Staat und von der Industrie finanziert. Bisher wollten etwa 160 Unternehmen Zahlungen leisten, so der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHT), Hans Peter Stihl. „Das sind noch viel zu wenig“, sagte Stihl zum Auftakt der Vollversammlung seiner Organisation in Berlin. Deshalb will der DIHT rund 200.000 Firmen mit mehr als 100 Beschäftigten in Deutschland anschreiben und zur Beteiligung am Entschädigungsfonds der deutschen Wirtschaft auffordern. Eine Werbeaktion in diesem Sinne kündigte Stihl gestern in Berlin an. Er schätze die Chancen groß ein, bei einem breiten Engagement der Unternehmen bis Sommer die erforderlichen fünf Milliarden Mark aufbringen zu können.

Unterdessen hat die internationale Kommission für Versicherungsansprüche aus der Zeit des Holocaust eine weltweite Informationskampagne über Ansprüche auf bisher nicht ausbezahlte Policen gestartet. In den nächsten vier Monaten soll das Benachrichtigungsprogramm 70 Länder umfassen, teilte der Leiter der Kommission, der frühere amerikanische Außenminister Lawrence Eagleburger, am Dienstagabend in Washington mit. In Berlin hieß es gestern aus amerikanischen Regierungskreisen, man wolle nicht nur warten, bis sich jemand mit Ansprüchen melde, sondern aktiv die Leute auch ausfindig machen. Vorgesehen sind unter anderem Anzeigen, gebührenfreie Telefondienste und eine mehrsprachige Website im Internet.

Eine individuelle Entschädigung in Höhe von mindestens 5.000 Mark für frühere NS-Zwangsarbeiter hat gestern Aktion Sühnezeichen gefordert. Statt einer Nachweispflicht solle die „Glaubhaftmachung“ der Ansprüche ausreichen.

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