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Die Tigerente der CDU

Wie sieht die CDU nach Schäuble, Koch und Co. aus? Vielleicht wie Oliver Wittke, Deutschlands jüngster Oberbürgermeister. Über einen Konservativen, der ausgerechnet die rote Hochburg Gelsenkirchen regiert ■ Von Robin Alexander

Wittke über die CDU: „Wir Jungen müssen die strategische Möglichkeit einer Koalition mit den Grünen vorbereiten.“

So nett können Männer um sieben Uhr morgens sein: Oliver Wittke räumt wie selbstverständlich die türkisfarbene Kaffeetasse seiner Frau in die Spülmaschine. Er muss noch ins Bad, sich elektrisch rasieren. Blass unter den Stoppeln ist der 34-Jährige, grippegeschwächt, doch ganz wach. Es gilt, einen Eindruck zu vermitteln, darum hat er so früh zu sich nach Hause geladen, in eine ruhige Nachbarschaft in Gelsenkirchen-Buer. Später soll in der Zeitung stehen: Ein Mann, der seinen eineinhalbjährigen Sohn Max küsst, bevor er zur Arbeit geht. Ein Mensch, der nebenan wohnen könnte. Ein Politiker, aber keiner aus der Welt der schwarzen Kassen und Privatjets. „Unser Dackel heißt Zeus“, heute ist der kleine Hund leider nicht da, „den Götternamen bitte nicht als Größenwahn auslegen.“ Beim Image zählen Nuancen.

Oliver Wittke hat jüngst eine Wahl gewonnen. Seit September ist er Chef von 4.800 städtischen Angestellten und Repräsentant von 283.135 Gelsenkirchenern. Der jüngste Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt.

Dass Wittke es ist, der jetzt im Dienstwagen zum Hans-Sachs-Rathaus braust, kann manch einer im Ruhrgebiet auch ein halbes Jahr nach seiner Wahl noch nicht fassen. Er ist von der CDU. Und die haben in Gelsenkirchen eigentlich noch nie etwas gewonnen. 53 Jahre lang stellte die SPD hier den Oberbürgermeister. 43 Jahre lang regierte sie mit absoluter Mehrheit. Die ehemalige Arbeiterpartei gehörte zu Gelsenkirchen wie der ehemalige Proletenclub FC Schalke 04. Als Wittke die Stichwahl im September mit 123 Stimmen Vorsprung gewann, taufte ihn ein fassungsloser Wolfgang Clement „Sieger wider alle Vernunft“.

Wider alle Vernunft ist auf jeden Fall Wittkes Tempo. Parkt vor dem Rathaus, springt nicht zwei, sondern drei Treppenstufen auf einmal hoch, hetzt vorbei an einer schwarzen Tafel, die hier wohl schon seit 1950 staubig die Raumbelegung ausweist. Die weißen Buchstaben muss Wittke vielleicht bald umstecken lassen. Neue Stadtverordnete der PDS, von einem marxistischen Forum und von den „Republikanern“ verlangen Fraktionsbüros. Die Lokalpolitik ist unübersichtlich geworden, sogar die FDP stellt einen Ratsmann. Feste Mehrheiten gibt es keine. „Meine erste Personalentscheidung ist sofort bestätigt worden“, tut Wittke stolz kund. Die erste parteilose Dezernentin seit dem Krieg. „Alle im Rat denken: Wir sind Opposition. So viel war hier noch nie los.“

Wittke kann das beurteilen. Seine erste Rede im fensterlosen Ratssaal hielt er am Tag des Mauerfalls. Der Nichtraucher setzte sich mit 23 Jahren in die Rauchschwaden der bärtigen Stadtverordneten. Einer von denen erinnert sich an seinen ersten Eindruck vom Ratsbaby: „Er fiel auf, als er den Chef der Stadtwerke als ,Leiter des VEB Energie‘ ansprach.“ Hier, ganz hinten, habe er gesessen, zeigt Wittke: „Da hört die Presse die Zwischenrufe.“ So redet man den Hinterbänkler zum Strategen.

Der Student Wittke verfolgt Debatten um Ampelschaltungen und Hundesteuer so aufmerksam, dass er durch seine Zwischenprüfung an der Uni rasselt. Lieber als an seine Studienzeit in der Nachbarstadt Bochum erinnert er sich an sein Abitur: „Eins plus in Geschichte, der Lehrer war ein Linker, aber fair.“ Politisiert wurde Wittke am Leibniz-Gymnasium – als Oppositioneller. „Damals war alles rot: der Bund, die Stadt, die Lehrer, die Mitschüler.“ Als die Schülervertretung Plakatwände anmietet, um für Ostermärsche zu werben, reicht es Wittke. Er beschließt, selbst Schülersprecher zu werden. Dann Ratsmitglied. Dann Landtagsabgeordneter. In Opposition ist er dabei immer geblieben. Bestellt das in der Union brachliegende Feld Ausländerpolitik, erntet Anerkennung von türkischen Organisationen und Misstrauen in der eigenen Landtagsfraktion. Selten die eigenen Vorstellungen umsetzen zu können, hat Wittke nicht bitter gemacht. Im Gegenteil: Die dauernde Erfahrung, in der Minderheit zu sein, scheint politische Tugenden zu schärfen. Zur Verbindlichkeit eines jungen Konservativen tritt bei Wittke eine entwaffnende Offenheit. Amtsleiter, die mehr Diensterfahrung haben als Wittke Lebensjahre, berichten, wie sich der OB vorstellte: „Ich bin neu hier. Helfen Sie mir?“

Kaum im Amt, machte er die Fahrerlaubnis für städtische Fahrzeuge. Ein Wunder, dass er nicht durchfiel. Denn er kurvt Gäste durch Gelsenkirchen, als wolle er ganz Europa in einer Woche kennen lernen: zum futuristischen Wissenschafspark, zur großen Solarfabrik; an der Baustelle des neuen Fußballstadions setzt er den Benz voll in den Schlamm. Erst in der Markthalle im Heimatstadtteil – auch eine Attraktion – gönnt Wittke sich eine Pause: Espresso im Stehen. An der Bar erinnert sich Wittke an die schwerste Entscheidung seines Lebens. Wie kann einer nur von Wirtschaft zu Geografie wechseln? Mitten im Studium! Das will nicht in den Kopf des Vaters, der sich bei Veba mühsam vom Schlosser zum Angestellten hochgearbeitet hat. „Papa, dein Aufsichtsratsvorsitzender Dr. Härtel hat gesagt: es ist gut.“ Wittke hatte den obersten Boss „am Rande eines politischen Termins“ um persönlichen Rat gebeten. Bei den Eltern zieht er erst 18 Monate nach seiner Hochzeit aus. Wie andere, die in der CDU die „jungen Wilden“ geben, scheint auch Wittke seltsam unerwachsen alt. Struppiges Haar verdeckt Geheimratsecken. Noch lacht er nicht überspannt, sondern natürlich, mit sichelförmigen Falten in den Wangen. In seiner Heimatstadt, die er nie verließ, wirkt Wittke fremd. Mit ovalen Brillengläsern, im braun-grünen Jackett, mit brauner Krawatte und brauner Hose sieht er aus wie ein Engländer vom Lande, der sich in die Städtewüste Ruhrgebiet verirrt hat. „Wer eine Wohnung brauchte, ging früher zum Betriebsrat. Für einen Job in der Stadtverwaltung ging man zur SPD“, sagt Wittke. Auch die Kultur der Solidarität in seiner Heimatregion ist ihm fremd. „Die Menschen hier sind durch die großindustriellen Strukturen quasi entmündigt worden.“ Wittke tönte im Wahlkampf: „Bei uns ist es wie früher in der DDR.“

Er ist schon wieder am Steuer und zeigt aus dem runtergekurbelten Fenster auf eine Grundschule: „Hier unterrichtet übrigens meine Frau.“ In Gelsenkirchen gibt es Schulen mit 86 Prozent Ausländeranteil. Integration: null. Was kann man da machen? Wittke: „Weiß ich auch nicht.“ Denkpause. „Da müssen junge deutsche Familien hin.“ Die Familie heilt in Wittkes Weltbild alle Brüche der Gesellschaft. Notfalls will er junge Mamas und Papas mit billigem Bauland in die Problemstadtteile locken.

Die CDU wehrte sich lange gegen den Mann, der ihr jetzt Jubelartikel in Focus und Frankfurter Rundschau beschert. In Gelsenkirchen – wo früher Günter Volmer, der Vater des grünen Staatsministers, die lokale Union beherrschte wie ein kleiner Kohl – fand sich einfach niemand, der ins scheinbar aussichtslose OB-Rennen gehen wollte. Erst als die Frist zur Nominierung beinahe ablief, kam man auf Wittke. Einen Jagdurlaub („Schottisches Rotwild im Frühling“) verlegte der ungeliebte Kandidat auf Oktober („Gamswild in Hessen“). Nach der Wahl.

Er stornierte wieder. Im Stimmungstief der rot-grünen Bundesregierung verlor die SPD eine Wahl nach der anderen. Prominenz aus Berlin kam damals nicht gut an in der Gelsenkirchener Fußgängerzone. Wittke eröffnete seinen Wahlkampf auf dem Schulhof seiner ehemaligen Grundschule und lieh sich einen quietschgelben New Beetle. Das Spaßmobil parkte er gern neben dem Vehikel des SPD-Kandidaten, einem verbeulten Buckel-Renault mit ortsfremdem Kennzeichen. Die Genossen hatten es immer noch nicht kapiert: Zum ersten Mal wurde es knapp in ihrer Hochburg. 70 Prozent im ersten Wahlgang werde er holen, hatte der Amtsinhaber noch mit Lokaljournalisten gewettet. Einsatz: zwei Pils. Das Bier war schnell fällig. Der Oberbürgermeister Dieter Rauer personifizierte, was Wittke genüsslich als „Genossenfilz“ anprangerte: einen Politiker, der seinen Sohn im Dienstwagen auf Schalke kutschiert, dessen Frau seltsame Baugenehmigungen bekommt. Zähneknirschend nominierte die SPD einen anderen: Dr. Klaus Härtel warb für „Kontinuität“ – in der Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Westdeutschland, die wegen Überschuldung keine Mark ohne Genehmigung einer Landesbehörde ausgeben darf. Wittke plakatierte „Erneuerung“ und gewann.

Erneuern soll sich selbstverständlich auch die krisengeschüttelte CDU. „Mitten im Leben“ sah Generalsekretärin Angela Merkel den Platz der ehemaligen kohlschen Machtmaschine vor Ehrenwort und Schwarzkonten. In Wittkes Mietwohnung sieht es tatsächlich aus wie „mitten im Leben“: Papa hat das Arbeitszimmer für das Kind geräumt, ein Spielhaus aus bunten Röhren beherrscht die gute Stube Wohnzimmer, überall klebt und steht Janoschs Tigerente. Aber im Bücherregal lagert die Biografie Adenauers, die Biografie Strauß’, die Biografie Barzels, der Aral-Schlemmer-Atlas, zweimal Kohl, Schäuble. Sie mögen Kriminalgeschichten? Das Lächeln wird zum ersten Mal schmal. Der Schweiger Kohl habe doch Verdienste. Der Lügner Schäuble habe den Laden zusammengehalten. Der Fälscher Koch könne ruhig Ministerpräsident bleiben. Die Unbeschädigte Merkel eigne sich prima als Parteivorsitzende. Aber offen gegen Rühe oder die CSU Position beziehen?

Wittke über Gelsenkirchen: „Die Menschen hier sind durch die großindustriellen Strukturen quasi entmündigt worden.“

Einen Kaffee später erzählt Wittke von seinem „politischen Ziehvater“ Norbert Lammert. Einer von zwei Unionsabgeordneten, die im Bundestag gegen eine Amnestie im Zusammenhang der Flick-Affäre stimmten. Der aussichtsreiche Ministerkandidat Norbert Lammert blieb zehn Jahre lang Staatssekretär in Bonn. Denn die CDU hat ein Elefantengedächtnis.

Andere vergessen schneller. Vor einem Jahr sammelte Wittke in der belebten Bahnhofstraße Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Gelsenkirchener Grünen stimmten nach Wittkes Wahlsieg rasch ein Papier mit Gemeinsamkeiten ab. Eine lokale Kampagne für Einbürgerung ist in Vorbereitung. „Wir Jungen in der CDU müssen die strategische Möglichkeit einer Koalition mit den Grünen vorbereiten“, doziert Wittke in seinem Wohnzimmer vor einem Bild von Christos „Wrapped Reichstag“. Daneben hängt ein Förderturm vor grellbuntem Hintergrund. In der „Stadt der 1.000 Feuer“ wird am 30. April die letzte Tonne Kohle gefördert. Ob der junge OB sich an diesem traurigen Tag „auf Zeche Ewald“ sehen lässt, weiß er noch nicht. Mehr als die stahlschwere Vergangenheit seiner Stadt liegt Wittke die Zukunft am Herzen. Die persönliche. Seine Perspektive sieht er nur bedingt in Gelsenkirchen. („Nach zwei Amtszeiten wäre ich ja erst 42.“) Die Verwaltungsspitze nennt er schon heute mal „Kabinett“, das glücklich zugefallene Amt „eine Lebenschance“.

Ein anderer Konservativer, der sich auch jung wähnt, sucht jetzt schon seine Chance. Jürgen Rüttgers möchte im Mai Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen werden. Die Plakatwände sind längst bestellt. Einen Entwurf findet Oliver Wittke „extrem gelungen“. Jürgen Rüttgers auf hellem Grund, daneben drei Worte: „Die neue CDU!“

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