: Etwas dick geworden
Mit „Ein Mensch wie Dieter“ geht die Langzeitbeobachtung der Golzower weiter
In der Endlos-Dokumentation von Barbara und Winfried Junge sehen wir heuer das Leben von Dieter – vom Anfang bis fast zum Ende. Diese der Welt längste Langzeitbeobachtung einer Gruppe von Jungen und Mädchen aus dem Oderbruch geht immer weiter: Jedes Jahr liefern die beiden Defa-Dokumentarfilmer aufs Neue einen aktualisierten Zusammenschnitt von einem oder mehreren ihrer Protagonisten, die 1961 bei Beginn dieses Projekts in Golzow eingeschult wurden.
Das Dorf ist heute berühmt wegen seiner LPG, die sich seit ihrer DM-Eröffnungsbilanz zu einer der modernsten Großlandwirtschaften Europas, mit einer Tochtergesellschaft in der Ukraine, entwickelte. Wie so viele aus der gefilmten Schülergruppe arbeitete auch Dieter zunächst auf der Golzower Kolchose. Später wechselte er seiner Frau zuliebe in einen städtischen Wohnungbaubetrieb über. Noch heute, da die beiden mit ihren Kindern in einem komfortablen Landhaus im Oderbruch leben, spielen sie abwechselnd die Ernährer oder planen, zusammen zu arbeiten.
Zwischendurch arbeitete Dieter allerdings mehrmals alleine im kapitalistischen Ausland – auf DDR-Baustellen. Nach der Wende dann auch in Westberlin. Wie viele andere aus dem Oderbruch nahm das Ehepaar anschließend an einem Allgäuer Amway-Blitzverkaufstraining teil. Ob hier oder auch auf einer Baustelle mitten in der lybischen Wüste – früher oder später tauchte das Ehepaar Junge nebst Kamerateam auf. Selbst bei einer Belehrung durch seine dortigen Kaderleiter filmen sie ihn.
Seit 39 Jahren geht das nun schon so. Dieter wurde darob – logisch! – immer besser. Und reifer sowieso. Seine Frau hat sich inzwischen mit einem mobilen Altenpflegedienst selbständig gemacht. Inzwischen sind auch die Kinder bereits groß. Aufregung verursachte vor ein paar Jahren das Jahrhundert-Hochwasser an der Oder. Und natürlich sein Hausbau, der, wie üblich, länger dauerte und teurer war, als urspünglich geplant. Zudem verlor er zwischenzeitlich auch noch seinen Arbeitsplatz, weil die einem Westkonzern unterstellte Baufirma Pleite ging.
Nicht nur die etwas herablassend-wohlwollend wirkenden Fragen von Winfried Junge, die über all die Jahre gleich klingen, machen aus dieser Langzeit-Beobachtung eine fortwirkende DDR-Propaganda. Auch die von Klein auf an ihre Kamerabegleitung gewöhnten Helden aus Golzow verstehen es wie wohl kaum jemand, eine gute Figur im Film zu machen.
Auch wenn Jürgen im Gegensatz zu Dieter eher maulfaul war, Marieluise immer etwas gezwungen wirkte und Brigitte erst sehr spät „selbstbewusst“ wurde. Insgesamt haben es die Kommunisten wie keine andere Diktatur verstanden, aus völlig verstockten Vorwerk-Bewohnern redegewandte Komsomolzen zu schmelzen. Erst seitdem man aus Schwertern Pflugscharen macht, geht es dort wieder andersrum. Dieter und seine Frau sind inzwischen etwas dick geworden, sie gehören nicht gerade zu den Wendeverlierern. Darauf deuten Mittelklassewagen und Handy hin.
Nach dem Hochwasser bot die Landesregierung den Betroffenen im Oderbruch an, eine der im Zweiten Weltkrieg gesprengten Brücken nach Polen wiederherzustellen. Entsetzt winkten dort alle ab: „Wir brauchen jetzt erst mal Ruhe, Ruhe und noch mal Ruhe!“ Das gilt selbstverständlich für das gesamte Territorium der DDR, aber für Dieter aus Golzow besonders. Deswegen will er mit diesem Film auch die Langzeitbeobachtung für sich als abgeschlossen betrachten.
Er war mal ein schöner Junge und hat sich auch später nie unterkriegen lassen. Es hat den Anschein, dass er immer anständig geblieben ist. So könnte eine Synopsis seines Lebens schon jetzt lauten. Möge er jedoch 100 Jahre alt werden – und sein Kamerateam nicht locker lassen! „Krieg und Frieden“ ist eine Kurzgeschichte dagegen. Helmut Höge
„Ein Mensch wie Dieter – Golzower“. Regie: Barbara und Winfried Junge, läuft ab heute in den Kinos Regenbogen und Tonino, 122 min
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