■ Das russische Militär, unterstützt von Truppen des Innenministeriums, übt sich in Tschetschenien in gnadenloser Siegerwillkür. Wahllos werden Tschetschenen aufgegriffen und in Lagern inhaftiert. Ob sie nun rebellische „Banditen“ sind oder nicht, interessiert dort keinen: Erst Passkontrolle, dann Folterkeller
Ansor hatte Glück im Unglück. Am 20. Januar greift ein russisches Kommando den 38-jährigen Tschetschenen in der Nähe der Ortschaft Ischtscherskaja am Terek im Norden Tschetscheniens auf. Erst fordern die Soldaten von dem Hirten einige Schafe als Tribut, danach verlangen sie die Papiere. Mit Ansor werden am selben Tag 58 Männer festgenommen und den Behörden im Naurski-Rayon überstellt: zur Überprüfung, wie es heißt. Nach Jahren ohne funktionierende Verwaltung im Tschetschenien der Zwischenkriegszeit hat kaum jemand einwandfreie Papiere – der Siegerwillkür sind Tür und Tor geöffnet. Und da Moskau anscheinend bewusst den rechtlichen Status der Gewaltaktion im Kaukasus offenhält – bisher wurden weder Ausnahmezustand noch Kriegsrecht verhängt –, gibt es auch keine Verantwortlichen. Keiner kann für Verbrechen und Rechtsbeugungen zur Rechenschaft gezogen werden. Das nährt den Verdacht, der Kreml nutze die antikaukasischen Ressentiments der Bevölkerung, um sich ein für allemal des Tschetschenenproblems zu entledigen und die Spuren restlos zu tilgen.
Ansor wird noch am selben Tag in das Gefängnis Tschernokosowo verlegt, sechzig Kilometer nordwestlich von Grosny. Die berüchtigte Haftanstalt dient den Russen als „Filtrationslager“, in dem Verdächtige danach überprüft werden, ob sie irgendwann auf Seiten der Freischärler gekämpft haben. Filtrationslager sind keine neue Erfindung. Schon im ersten Krieg richtete die russische Kommandantur am Stadtrand Grosnys einen „Filtrationspunkt“ ein. Ohrenbetäubende Musik aus blechernen Lautsprechern sollte die Schreie der Gefolterten übertönen. Vor den Toren hofften verzweifelte Menschen, vielleicht ein Lebenszeichen ihrer vermissten Angehörigen zu erhalten. Die gleichen Szenen spielen sich heute vor dem riesigen Areal der ehemaligen sowjetischen Strafanstalt Tschernokosowo ab. Mütter und Frauen, die wie in Trance die Namen ihrer Männer und Söhne rufen. In der Hoffnung, eine der Wachen werde sich ihrer erbarmen.
Beim ersten Verhör schlagen zwei maskierte Mitarbeiter der Truppen des Innenministeriums (Omon) Ansor mit dem Gewehrkolben in den Nacken. Die meisten Leute auf den Fotos, die er als „Banditen“ identifizieren soll, kennt er nicht. Als er vom Stuhl fällt, treten ihn die Wachen. Der Chefinquisitor erkundigt sich beim Anstaltsarzt, ob der Gefangene noch verhörfähig sei. Er wird in einen Raum geführt, in dem zwei Eisenbetten stehen.
Stromstöße, Hunde und ein Exekutionskommando
„Nach einigen Stromstößen habe ich das Bewusstsein verloren“, erzählt Ansor ruhig. Danach sei ihm schlecht geworden und er habe sich übergeben müssen. Vor seiner Zelle spielen sich unterdessen grauenhafte Szenen ab. Zwei scharfe Hunde fallen über einen am Boden liegenden blutüberströmten Häftling her. „Merkt euch das“, schreit der Offizier den anderen Gefangenen zu.
Tagelang wird Ansor in Ruhe gelassen. Am 28. Januar treibt eine Wache die Gefangenen auf den Hof. 280 Männer und 77 Frauen sollen zu dem Zeitpunkt eingesessen haben. Ein Lkw hält auf dem Vorplatz. Soldaten der Omon postieren sich in zwei Reihen. Die Ladeklappe des Lkws öffnet sich, und zwölf Rebellen mit Handschellen werden von der Ladefläche geworfen. Ein Spießrutenlauf beginnt. Auf zwei mit Gummiknüppeln bewaffnete Omonsoldaten folgt einer mit einem Eisenhammer. Eine Drangsalierungspraktik, die mehrere Entlassene aus Filtrationslagern berichteten. Die Traktierten werden in das Verwaltungsgebäude getrieben und kehren erst nach Stunden zurück.
Was danach angeblich folgte, ist ungeheuerlich. Von unabhängiger Seite konnten die schweren Anschuldigungen nicht bestätigt werden. Auch andere Häftlinge, die Tschernkosovo entkommen und sich an Menschenrechtsorganisationen wenden konnten, wollen von dem Vorfall nichts erfahren haben. Ansor bleibt indes bei seiner Version und behauptet, ein maskierter Offizier habe sich an die noch immer in Reih und Glied stehenden Gefangenen gewandt: „Wir erteilen euch jetzt eine Lektion!“ Danach habe der Offizier den ältesten der Rebellen, der laut Ansor an die 60 Jahre alt gewesen sein muss, gefragt: „Wie viele von unseren Soldaten hast du getötet?“ Furchtlos antwortete der Alte: „Zweihundert“. Das Erschießungskommando bestand aus 18 Soldaten des Innenministeriums, die auf Befehl des maskierten Offiziers das Feuer eröffnet haben sollen. „Danach mussten wir sie begraben. Wer in den heiligen Krieg zieht, ist auf den Tod vorbereitet.“ Zu diesem Zeitpunkt saß auch der auf obskure Weise verschwundene Korrespondent des russischsprachigen US-Senders Radio Swoboda in dem Lager. Anfang der Woche wurde Andrej Babizky auf freien Fuß gesetzt. Auch er bestätigte Folterungen und massive Verstöße der sadistischen Wachen gegen die Menschenrechte, von einer Massenexekution indes berichtete er nicht.
Ansor hatte Glück. Am 1. Februar wurde er entlassen. Der stellvertretende Gefängnisleiter Ibrahim Hussein, ein Tschetschene, stammte aus dem gleichen Dorf. Hussein kannte Ansors Onkel Saindi, einen Pädagogen, der ihn unterrichtet hatte. Hussein entließ Ansor unter einer Bedingung: „Nimm die Familie, pack deine Sachen und zieh hier weg.“ Noch am selben Tag folgt Ansor diesem Rat. Er lebt seither in einem Flüchtlingslager in Inguschetien.
Gefahr für Leib und Leben bestünde nicht mehr, verkündete die russische Generalität, nachdem sie die nördlichen Gebiete der Kaukasusrepublik besetzt hatte. Sie forderte die Flüchtlinge auf, in die „befreiten Territorien“ zurückzukehren. Viele machten sich daraufhin auf den Weg, weil sie den Versprechungen Glauben schenkten. Nun sehen sie sich getäuscht. Die regelmäßigen „Säuberungen“ der Armee sind gezielt auf die männliche Bevölkerung gemünzt. Unter dem Vorwand, Personalien festzustellen, werden Männer willkürlich auf der Straße verhaftet. Gegenüber der Menschenrechtsorganisation „Physicians for human rights“ gaben acht Inhaftierte an, erst nach ihrer Rückkehr eingesperrt worden zu sein. Und sie kamen nur frei, weil ihre Familien Lösegeld zahlten. Überdies kursieren Gerüchte, die Armee sammele Geiseln „auf Vorrat“ , um sie jederzeit gegen gefangene Russen eintauschen zu können.
Der Arzt Hassan Bayiejew wurde am 2. Februar festgenommen. Als er nach 18 Stunden Arrest in sein Krankenhaus in Alchan-Kala zurückkehrte, sind 120 Patienten verschwunden, sechs Freischärler und eine 70-jährige Russin liegen erschossen in ihren Betten. Auch Mussas Mutter hat eine schreckliche Zeit hinter sich. Am 16. Januar, auf der Flucht aus Grosny, wurde ihr Sohn vor ihren Augen aus dem Bus gezerrt. Der Vorwand: Identität feststellen. Drei Wochen zitterte sie um das Leben ihres Sohnes, der in den Verliesen Tschernokosowos verschwand.
Eine 13-Jährige wurdejeden Tag vergewaltigt
Die 42-Jährige setzt alle Hebel in Bewegung, findet einen Mittelsmann und zahlt 4.000 Rubel (300 Mark) Lösegeld. Nach drei Wochen hat sie ihren Sohn wieder. „Er wird wohl sein ganzes Leben behindert sein“, klagt sie, „doch Hauptsache, er lebt.“ Die Folterungen haben Mussa schrecklich zugesetzt. Ein Attest aus der Zentralen Klinik in Nasran belegt die schweren Folgen der Misshandlungen. Zwei Rückenwirbel sind gebrochen, Prellungen und Quetschungen am ganzen Körper, besonders schwer am Schädel und im Bereich des Brustkorbs. Der 20-Jährige raucht Kette und ist hypernervös. Er spricht abgehackt, macht lange Pausen und atmet schwer. Nachts kann er nicht schlafen. Bilder und Schreie der Gemarterten verfolgen ihn. Eine Szene habe sich täglich wiederholt: das Flehen und Schluchzen eines dreizehnjährigen Mädchens, das von den maskierten Wachen der Reihe nach vergewaltigt worden sei. Kein Mitleid. Mussas Mutter hat ihren Sohn inzwischen bei Freunden versteckt: „Ich habe Angst, die Russen kommen wieder. Ich traue ihnen nicht.“
Das Vorgehen Russland verstößt nicht nur gegen internationale Menschenrechtskonventionen. Es verletzt auch die Grundrechtsartikel der russischen Verfassung, die bisher nicht außer Kraft gesetzt worden sind. Doch wen kümmert das schon.
Klaus-Helge Donath, Nasran
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