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Der Systemkritiker

aus WashingtonPETER TAUTFEST

Von irgendwoher hatte sich Mike Christian weiße und rote Stofffetzen besorgt und aus einem Bambussplitter eine Nadel gefertigt. In monatelanger Arbeit nähte er daraus eine amerikanische Fahne, die er auf der Innenseite seines Hemds verbarg. Allabendlich, kurz bevor die Wachen als einzige Mahlzeit des Tages eine Schale wässrige Suppe brachten, hängte er sie an die Zellenwand. Zusammen stellten wir uns davor auf und sprachen den Fahneneid.

John McCain, damals Zellengenosse von Mike Christian in Hanoi, erzählt gerne Geschichten, vor allem patriotische. Ladestockgerade, wie die Amerikaner sagen, steht er vor, lieber mitten unter seinem Publikum. Weißhaarig, massiger Hals. Dahinter eine übergroße amerikanische Fahne. Wie immer. Das Mikrofon handhabt McCain wie ein Talkmaster.

Jeder Politiker hat so seinen Stil. McCain entnimmt die Gleichnisse für seine Wahlkampfreden dem düsteren Kapitel Vietnam und versteht es dabei, dem Unglück noch eine humorvolle Seite abzugewinnen. Wenn er auf seine Niederlagen bei den Vorwahlen in South Carolina und Virginia, Washington und North Dakota eingeht, scherzt er: „Ich habe schon mal ein Flugzeug in den Grund gebohrt, nur um mich wieder zusammenzuraffen und aufzusteigen.“

1967 wird der heutige Senator von Arizona und Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, John McCain, beim Anflug auf Hanoi abgeschossen und schwer verletzt gefangen genommen. Obwohl ihm wenig später die Freilassung angeboten wird – sein Vater wird Oberkommandierender der amerikanischen Pazifikflotte – beharrt McCain auf die Vorschrift des Kriegsrechts, dass Kriegsgefangene in der Reihenfolge ihrer Gefangennahme freizulassen sind. Also fünf Jahre nordvietnamesische Gefangenschaft und ein zertrümmertes Knie.

Heute setzt McCain zu seinem seitdem gewagtesten Steilflug an. Bei den heutigen Vorwahlen muss er mindestens in Neuengland sehr gut abschneiden, wenn er gegen George Bush im Rennen um die republikanischen Präsidentschaftskandidatur bleiben will.

„Seht her, ein großer Amerikaner“, sagt John McCain und neigt sich einem Jungen zu, der halb verlegen, halb strahlend in der ersten Reihe sitzt und McCains Biografie, den Bestseller „Die Treue der Väter“ hochhält. McCain signiert. Gerne. Jedes Kind kennt in Amerika seine Geschichte, und wie keiner der anderen Kandidaten versteht er, die Jugend für sich zu begeistern. McCain, der Kriegsheld.

Auf seinen Wahlveranstaltungen lässt Senator McCain jeden zu Wort kommen – selbst protestierende Umweltschützer. Mit langen Hüten bekleidet, die qualmende Fabrikschlote darstellen sollen, haben sie sich in eine seiner Versammlungen gedrängt. „Wer sich so zurecht macht und so schöne Hüte trägt, hat das Recht, gehört zu werden“, sagt McCain. „Und – Hand aufs Herz – ist es nicht das, was amerikanische Freiheit ausmacht, zu tun und zu lassen, was einem passt, und mit verrückten Hüten rumzulaufen, wenn es uns gefällt?“ McCain, der Liberale.

Ein Held des Umweltschutzes ist Kandidat John McCain nicht, war er als Senator nie. Ein Komitee werde er im Weißen Haus gründen und die besten Wissenschaftler der Welt zusammenbringen, um die Frage des Treibhauseffektes zu klären – als sei das nicht schon ein Dutzend Mal geschehen. Aber die Umweltschützer sind's zufrieden. Sie sind zu Wort gekommen, und etliche sind dafür nicht abgeneigt, für ihn zu stimmen.

Eines Tages dann entdeckten die nordvietnamesischen Wachen die Fahne in McCains Zelle und konfiszierten sie. Später am Abend holten sie Mike Christian ab und schlugen ihn in Hörweite seiner Mitgefangenen besinnungslos. So gut sie konnten, kümmerten seine Kameraden sich später um Mike, als er auf den Zementboden der kahlen Zelle geworfen wurde. Und nachts dann, als McCain sich auf seine Matratze schlafen legte, sah er, wie Mike unter einer der kahlen Glühbirnen, deren Licht nie gelöscht wurde, mit ein paar Stoffresten hantierte. Er hielt sie dicht vor seine von Schlägen zugeschwollenen Augen und begann sie mit einem Bambussplitter zu einer amerikanischen Fahne zusammenzunähen.

Die Fahne. Es war 1988, als McCain diese Geschichte erstmals auf einem Parteitag erzählt. George H. W. Bush, Vater von George W. Bush und McCains heutigem Konkurrenten, war Kandidat der Republikaner, Mike Dukakis der der Demokraten. Und dieser Dukakis hatte Ende der 70er-Jahre als Gouverneur von Massachusetts sein Veto gegen ein Gesetz eingelegt, das Lehrern vorschrieb, allmorgendlich mit den Schülern den Fahneneid zu sprechen. Ein Gesetz, das eine Verfassungsklage nicht überstanden hätte.

Aber ein Veto gegen den Fahneneid! Also sprach McCain. Sprach von dem Gefangenen Christian, davon, wie er mit letzter Kraft die amerikanische Flagge zusammennähte. Mit dieser Rede eröffnete McCain einen der infamsten Wahlkämpfe der neueren amerikanischen Geschichte, bei dem Bush senior sich in die amerikanische Fahne hüllte und seinen Gegner Dukakis als vaterlandslosen Gesellen brandmarkte. Was folgte, war eine Rufmordkampagne, schreibt Timothy Noah vom Online-Magazin Slate.

McCain, das Opfer nordvietnamesischer Folterknechte, der Kriegsheld. Damit lenkt er von der Täterrolle der USA bei diesem Krieg ab. McCain denkt gar nicht daran, diesen Krieg zu kritisieren – allenfalls dessen Behinderung durch Politiker. Wenn er über die Lehren aus diesem Krieg spricht, verlässt ihn sein Humor. Die Hände umklammern das Podium, der Blick ist ins Weite gerichtet: „Wenn wir uns schon da hineinbegeben, dann mit dem Ziel zu siegen.“ Gemeint war diesmal das Kosovo. Das war noch ein anderer McCain, der da vergangenen Sommer in Washington gegen Clintons Balkanpolitik sprach, unmittelbar nach Eröffnung des Nato-Luftkriegs. „Wir haben die Lehren des Vietnamkriegs nicht gelernt!“ Der nämlich hätte gewonnen werden können, denkt McCain, wenn die USA Bodentruppen in Nordvietnam eingesetzt und einen auf totale Zerstörung ausgerichteten Bombenkrieg gegen Nordvietnam geführt hätten. So wie der Kosovo-Krieg mit Bodentruppen.

Für die Außenpolitik eines möglichen Präsidenten McCain hat der Senator schon seinen Begriff geprägt: „Rogue State Roll Back“ – Stabreime machen sich in der amerikanischen Politik immer gut. McCain würde eine aggressive Roll-Back-Strategie – ein Begriff aus den Anfängen des Kalten Kriegs – gegen die „Schurkennationen“ wie Irak, Korea oder Serbien verfolgen. Er plädiert für Flottenaufmärsche im Südchinesischen Meer, um Krisen auf der Koreahalbinsel oder den Drohungen Chinas gegen Taiwan zu begegnen.

„Es ist unglaublich“, sagt die Politologin Nancy Snow, „wie ein Rockstar wurde McCain auf dem Campus der University of California in Los Angeles begrüßt. Die Studentinnen und jungen Frauen, in deren Mitte ich stand, waren ganz entgeistert, als ich ihnen sagte, dass McCain strikt gegen die Freigabe der Abtreibung sei. ‚Ja‘, musste ich ihnen antworten, ‚und auch gegen jede Einschränkung des Waffenbesitzes und die Erhöhung des Mindestlohns.‘“

Nancy Snow könnte locker als Demokratin durchgehen. Sie ist für die Freigabe der Abtreibung, für die Erhöhung des Mindestlohns, für eine allgemeine Krankenversicherung. Amerikas politisches System hält sie für „strukturell marode“. Und dann geht Nancy Snow in South Carolina in ein Wahlkampfbüro McCains und sagt: „Hier bin ich, ich habe ein Auto und ein Handy, was kann ich tun?“ Warum unterstützt eine wie sie einen Kandidaten vom rechten Flügel der republikanischen Partei? „Der Enthusiasmus, mit dem die Leute sich um McCain scharen, ist ansteckend“, sagt sie. „Das ist ein politischer Strom, in den ich eintauchen musste, um zu verstehen, was sich in Amerika tut. Die McCain-Begeisterung hat etwas vom Drive der Civil-Rights- und Anti-Vietnamkriegs-Bewegung, etwas von der Spontaneität von damals.“

Vielleicht liegt es aber auch an McCains Thema: die Wahlkampffinanzierung und die Verteilung von Steuergeschenken an spendenfreudige Interessengruppen. Und an seiner Botschaft: Nichts werde sich in Amerika reformieren lassen, wenn dem großen Geld nicht der Einfluss auf die Politik genommen werde. McCain zieht gegen jeden Haushaltsposten zu Felde, mit dem Abgeordnete großzügige Spender bedienen wollen. Und damit gegen die Rüstungsindustrie, gegen Beschaffungsprogramme, die nicht in militärischer Notwendigkeit gründen, sondern in politischer Verschuldung am Spender. „McCain kritisiert das System als Ganzes. Und anders als wir kommt er aus dem System selbst und erreicht die Massen“, sagt Nancy Snow. McCain, der Systemkritiker.

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