piwik no script img

Da nützt selbst die Balalaika nichts

Die Stände der Türken? In Lodz. Die Gäste von Danuta Tybora? Weg. Der Transporter von Adam Swit? Leer. Wovon soll man da leben?

aus Przemysl GABRIELE LESSER

Adam Swit drückt das Gaspedal durch und rast an einer drei Kilometer langen Warteschlange vorbei. Mit quietschenden Reifen biegt er kurz vor dem Schlagbaum ab ins Handelszentrum „Granica“ (Grenze). Er stoppt, fährt im Schneckentempo weiter: „Przemyśl ist eine sterbende Stadt. Sie kommen nicht mehr, die Ukrainer. Alles steht leer. Zwei Jahre ist das Handelszentrum jetzt alt. Ich habe hier mal gearbeitet.“

Adam Swit, 58 Jahre, dick, verwegener Fahrstil. Der Pole deutet auf die weiß getünchten Läden: „Hier hatten die Vietnamesen ihre Stände. Sie sind schon vor einem Jahr gegangen. Jetzt ist alles leer. Sieben Läden!“ Er biegt mit seinem Transporter um die Ecke. „Das war die Straße der Türken. Sie haben Stoffe und Kleider verkauft. Jetzt sind sie in Lodz.“

Es ist seltsam leise

Lediglich am Tor direkt gegenüber dem Grenzübergang Medyka scheint das Geschäft noch zu brummen. Hier wimmelt es von Kleinhändlern mit Rucksäcken und riesigen karierten Plastiktaschen. Doch es ist seltsam leise. Keiner preist seine Ware an. Vielmehr murmeln die Händler mit scheinbar teilnahmslosen Blick ununterbrochen Angebot oder Kaufwunsch vor sich her: „Zigaretten, Zigaretten“, flüstern die einen, „Napoleon?“, fragen die andern. Viele haben „puszki“ im Angebot, gemeint ist Dosenbier, „spirytus“ – Wodka oder „Nivea“ – Kosmetik allgemein.

Die halbe Stadt lebt vom Grenzhandel mit den Ukrainern. Doch damit kann es bald vorbei sein. Wenn Polen der Europäischen Union beitritt, wird die polnische Ostgrenze zur Außengrenze der EU. Freizügigkeit im Innern der EU aber kann es nur geben, wenn die Außengrenzen dicht sind. Dies haben alle EU-Mitgliedstaaten im Abkommen von Schengen festgelegt.

Schon im Dezember 1997, als in Polen das verschärfte Ausländergesetz in Kraft trat, bekam Przemyśl die Folgen zu spüren. Der größte Basar in Südostpolen, zu dem täglich rund 11.000 Ukrainer reisen, verwandelte sich über Nacht in einen trostlosen Geistermarkt. „Das hat uns schier das Herz zerrissen“, sagt Adam Swit. „Die leeren Stände, und dazwischen der Akkordeonspieler, der noch tagelang die Balalaika anstimmte, so, als hoffte er, damit die Ukrainer zurückzulocken.“

Der Rücken gebückt, das Gesicht zerfältelt – Danuta Tybora, 64 Jahre, vermietet ein Zimmer ihrer kleinen Wohnung an ukrainische Händler, um ihre Rente aufzubessern. Damals musste sie ihre Kommode verkaufen, sagt die Witwe. „Es war das letzte schöne Möbel in meiner Wohnung. Jetzt habe ich hier nur noch das Billigste vom Billigen stehen.“ Ohne die Gäste aus der Ukraine hat Danuta Tybora nur 400 Zloty monatlich, weniger als 200 Mark. „Und dann sollte ich plötzlich eine Bescheinigung vorweisen, dass ich die Aufenthaltskosten für meine Gäste tragen werde. Mit Stempel! Ganz offiziell!“ Die alte Frau schüttelt sich: „Wie denn das? Mit 400 Zloty? Das reicht ja nicht einmal für mich allein.“ Dass Vermieten ein Gewerbe ist und sie dafür Steuern zahlen müsste, findet Danuta Tybora ungeheuerlich: „Da arbeitet man ein Leben lang, und wenn man alt ist, soll man auch noch Steuern dafür zahlen, dass man sich zum Überleben etwas dazuverdient?“

Bei ihr zahlen die Gäste 12 Zloty pro Nacht, das sind rund 6 Mark. Manche kommen immer wieder und melden sich telefonisch an. Aber an den meisten Tagen steht die alte Frau vor dem Bahnhof in Przemyśl, wartet die Züge aus Kiew und Lemberg ab und murmelt vor sich hin: „nocleg, tani nocleg“ („Übernachtung, billige Übernachtung“). Sie ist gegen den Beitritt Polens zur EU: „Das haben die sich da in Warschau ausgedacht. Verbrecher sind das. Von denen war noch nie jemand hier. Wenn die Grenze zu ist, wenn die Ukrainer noch mal wegbleiben, dann können wir uns hier den Strick nehmen. Ohne die Ukrainer ist die Stadt tot.“

Tatsächlich scheint sich die Regierung nicht darüber klar zu sein, dass die Schließung der Grenze zehntausende von Menschen um ihre Existenz bringen wird. Zwar sollen die Ukrainer, Rumänen und Bulgaren erst Ende 2002 dem Visumszwang unterliegen, zwar werden weitere hochmoderne Grenzübergänge an der Ost- und Südostgrenze Polens gebaut, doch bislang gibt es keinen Plan, der das völlige Absinken der ohnehin armen Grenzregion verhindern könnte.

Für die polnische Regierung scheint es nur ein psychologisches Problem. Danach klingen zumindest ihre Antworten auf einen Fragenkatalog der EU zu den möglichen Folgen der Grenzschließung. Teile der Bevölkerung, insbesondere die nationalen Minderheiten, heißt es da, würden negativ auf den Visazwang für die östlichen Nachbarn reagieren. Aus diesem Grund erwäge die Regierung, ob sie die Visa kostenlos oder zu einer nur geringen Gebühr erteilen solle. Möglich sei auch, einem breiteren Personenkreis als normalerweise üblich die Mehrfacheinreise mit nur einem Visum zu ermöglichen. Dies sei auch deshalb wichtig, weil die Konsulate – allein in der Ukraine werden in den nächsten beiden Jahren drei neue entstehen – die Flut der Visaanträge kaum werden bewältigen können. Statt 230.000 jährlich werden es rund 3,5 Millionen sein.

Kein Glück hat Przemyśl auch mit den eigenen Politikern. Vor kurzem gab Bürgermeister Tadeusz Sawicki die Stadt dem Gespött des ganzen Landes preis, als er einem in Polen hochpopulären karitativen Orchester den Auftritt in der Stadt verweigerte. Das Orchester habe den Antrag auf Spielerlaubnis nicht fristgerecht abgegeben, beharrte Sawicki. Weniger pingelig scheint er zu sein, wenn es um sein Budget geht. Seit Ende Februar ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn: Aus dem Stadtsäckel sind 80.000 Zloty (rund 40.000 Mark) verschwunden.

Der Ruf einer Investitionsruine

Statt sich auf den Beitritt Polens zur EU vorzubereiten, sich über Strukturhilfen zu informieren und Investoren an die künftige Ostgrenze der Europäischen Union zu locken, haben Bürgermeister und Stadtrat alles getan, um sich den Ruf einer garantierten Investitionsruine zu sichern. Noch 1995 wurde die Stadt mit der Europäischen Flagge ausgezeichnet. Danach ging es nur noch bergab. Der 1997 mit Geldern aus Brüssel gebaute riesige Bahnhof mit hypermoderner Zollabfertigung steht zumeist leer. Er wird gepflegt, aber kaum benutzt. Selbst die modernen Behindertentoiletten sind abgeschlossen, dadurch aber bei offiziellen Gelegenheiten als „Errungenschaft“ vorführbar. Die Zollkontrolle findet nach wie vor bereits in den Zügen statt – oder aber auf den Bahnsteigen. Nur da nämlich ist es den Zöllnern möglich, vom Schmuggelgut ein wenig für sich selbst abzuzweigen.

An der zwölf Kilometer langen Straße bis zum Grenzübergang Medyka liegt das Bergwerk Ruda. Seit Jahren war bekannt, dass die Arbeiter dort häufig an Krebs erkrankten. Doch das ärztliche Gutachten hatte nicht zur Folge, dass die Arbeitsbedingungen verbessert wurden, vielmehr wird es demnächst geschlossen. Ein paar Kilometer weiter sollte eine große Molkerei entstehen. Doch mit dem Bau wurde nicht einmal begonnen. Kurz vor der Grenze stehen noch die Reste einen langen Zauns. Hier sollte eine zollfreie Handelszone entstehen. Wenn dann in der Ferne der hypermoderne Fußgänger-Grenzübergang Medyka sichtbar wird, wirkt er wie eine Fata Morgana, die sich aus einem Rübenfeld erhebt. „Mrowki“ (Ameisen) werden die Kleinhändler genannt, die ihre Ware den beschwerlichen Trampelpfad hoch zum Handelszentrum „Granica“ schleppen, dort Zigaretten, Wodka und Säcke voller Nüsse verkaufen und sofort kehrtmachen, um den Weg von neuem anzutreten. Über 11.000 Grenzgänger täglich fertigen die Zöllner in Medyka ab.

„Diesmal war es reine Schikane“, murmelt ein merkwürdig anmutender Mann – schmales Gesicht, dicker Bauch – etwas atemlos. „Vier Mal musste ich mich anstellen.“ Er öffnet den Mantel und stellt 16 Flaschen Wodka in den bereitstehenden Kasten. Die Ladefläche des Kleinlasters füllt sich langsam. Zigaretten hat er auch mitgebracht – zwölf Stangen. Erlaubt ist nur eine. Und Wodka darf man eigentlich auch nur einen Liter zollfrei über die Grenze bringen. Der nunmehr drahtige Ukrainer in dem viel zu weiten Mantel kassiert mehrere hundert Zloty und tauscht sie sofort im „kantor“, der Wechselstube, gegen Dollar um. Zwar kann man auch Deutsche Mark bekommen, aber die will kaum noch jemand haben, seit der Euro zum Sinkflug angesetzt hat. Der Kleinschmuggel lohnt sich vor allem für die Armen, die nur knapp 100 bis 150 Mark im Monat verdienen.

Die Welt soll Przemysl vergessen

Der „richtige“ Grenzhandel hingegen wird sich wohl nach Korczowa-Krakowec verschieben. Hier soll die geplante Autobahn A 4 durchführen. Gegen Medyka, wo nur 120 Autos pro Tag abgefertigt werden können und die Wartezeit sich bis auf vier Tage ausdehnen konnte, hat der vor zwei Jahren eröffnete Grenzübergang Korczowa schon gewonnen. Hier können 2.000 Autos und Busse pro Tag abgefertigt werden, außerdem seit zwei Wochen auch Lastwagen. Der Übergang gilt als einer der modernsten Polens und wird von der Regierung gerne gezeigt. Die Liste der VIPs aus aller Welt, die sich hier mit freundlichen Sätzen in das Gästebuch eintragen, ist lang. Auch der deutsche Innenminister Otto Schily gehört zu ihnen. Nach Przemyśl zum Bahnhof oder zum Fußgänger-Grenzübergang Medyka geht niemand von ihnen. Für Adam Swit, den Automechaniker mit dem Kleintransporter, ist klar, warum: „Die Welt soll Przemyśl vergessen. Was heute zählt, ist Europa.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen