: Goliaths Langzeitstrategie
Heute präsentiert Karl Heinz Roth sein neues Buch über die fragwürdigen „Vordenker der Wiedervereinigung“ ■ Von Wolfgang Wippermann
Er ist ohne Zweifel der profilierteste linke Historiker, den wir heute haben. Hervorgetreten ist Karl Heinz Roth durch verschiedene Arbeiten zur Geschichte des „Dritten Reiches“ und der Bundesrepublik. Sie zeichnen sich durch Quellenreichtum einerseits und eine überaus kritische Einstellung andererseits aus. Umso erstaunlicher ist seine Sympathie für die untergegangene DDR. In seinem neuen Buch Anschließen, angleichen, abwickeln vergleicht er sie gar mit „David“, der gegen den bundesrepublikanischen „Goliath“ keine Chance gehabt hätte, weil sich die DDR „zu keinem Zeitpunkt ihrer vierzigjährigen Geschichte“ eine derartige „offensive Langzeitstrategie“ hätte leisten können, wie sie die Bundesrepublik betrieben habe.
Diese „offensive Langzeitstrategie“ sei von dem „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“ entwickelt worden, der 1952 vom damaligen Gesamtdeutschen Minsterium ins Leben gerufen und 1975 in „Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen“ umbenannt wurde. Die hier arbeitenden Wissenschaftler, von denen einige über eine belastete NS-Vergangenheit verfügten, hätten nicht nur die „Blaupausen“ entwickelt, sondern das „Koordinationszentrum für alle einschlägigen öffentlichen und privaten Anschluss-Vorbereitungen“ gebildet. Waren sie wirklich die ,Vordenker der Wiedervereinigung', die dabei an die Annexionspraktiken der NS-Eliten angeknüpft haben?
Tatsächlich kann Roth derartige „personelle Kontinuitäten“ aufzeigen. Einige führende Köpfe des „Forschungsbeirates“ haben sich vor 1945 an der Vorbereitung und Durchführung der nationalsozialis-tischen Annexionspolitik beteiligt beziehungsweise, wie Roth etwas blumig formuliert, sich „der annexions- und kriegswirtschaftlichen Maschinerie der NS-Diktatur zur Verfügung“ gestellt. Doch folgt daraus, dass sie sich deshalb nach 1945 an der Vorbereitung des „Anschlusses“ der DDR beteiligt haben? Ist hier post hoc propter hoc?
Und wie ist es mit den von ihnen für den „Tag X“ entwickelten Plänen, die Roth im Bundesarchiv Koblenz gefunden und wie gewohnt akribisch genau, aber sehr aktengläubig interpretiert hat? Dazu einige Beispiele: Roth weist nach, dass der Forschungsbeirat Mitte der 50er Jahre Pläne zur „Übertragung des Geltungsbereiches der D-Mark auf die DDR“ entwickelt hat. Doch kann man daraus schließen, dass damit die Einführung der D-Mark in der DDR des Jahres 1990 „vorbereitet“ wurde?
Ein weiteres Beispiel: Roth hat Pläne der Forscher gefunden, die hier von ihm selbst als „Vordenker“ bezeichnet werden, wie der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik zu vollziehen sei. Dabei wurde neben der Berufung einer „sofortigen handlungsfähigen gesamtdeutschen Exekutive“ und einer „Diktatur auf der Grundlage eines Ermächtigungsgesetzes“ auch an eine „handlungsunfähige Übergangsregierung in der DDR als ,Vertragspartner'“ gedacht. Kann man wirklich behaupten, dass im „März 1990 die dritte Variante Wirklichkeit wurde“? Wenn Roth schließlich drittens meint, dass die Kohl-Regierung dank der – teilweise Jahrzehnte zurückliegenden – Planungen des „Forschungsbeirates“ „bestens informiert und auf den DDR-Anschluß (...) auch detailliert vorbereitet“ gewesen sei, dann artet diese Kohl-Kritik geradezu in eine Kohl-Apotheose aus, der hier als mephistophelischer, aber gleichwohl genialer Vollstrecker der Einheit erscheint, die von den ,Vordenkern der Wiedervereinigung' schon lange vorgedacht worden sei. War wirklich alles intendiert und nichts improvisiert?
Bei allem Respekt vor Roths Quellenkenntnissen, manchmal interpretiert er sie doch fast so wie die von ihm sonst so gescholtenen bürgerlichen Historisten und Intentionalisten. Und dies nur, um die DDR zum bemitleidenswerten „David“ und Opfer der westdeutschen Annexionspolitik zu machen. Muss das sein?
Prof. Dr. Wolfgang Wippermann ist Historiker an der FU Berlin
Hamburger Verlagsmontage, heute, 21 Uhr, Schauspielhaus-Kantine; Karl Heinz Roth: „Abschließen, angleichen, abwickeln. Die westdeutschen Planungen zur Übernahme der DDR 1952 bis 1990“, Konkret-Literaturverlag, Hamburg 2000, 180 Seiten
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