: Halb aufgearbeitete Geschichten
Beim Umgang mit Stasi-Akten waren westdeutsche Politiker nie zimperlich – solange sie nicht selbst darin vorkamen
von CHRISTIAN FÜLLER
Im August 1990 fuhr der damalige Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, zum Bundeskanzler des Bruderstaats, Helmut Kohl, an den Wolfgangsee. Der Machtmensch aus dem Westen habe, so wird kolportiert, dem freundlichen Ostler damals ziemlich brutal die Grenzen aufgezeigt: Von ihm, de Maizière, existiere eine Stasi-Akte. Er solle sich also zurückhalten, bedeutete Kohl seinem Parteifreund.
Nun sind auch von Helmut Kohl Stasi-Akten aufgetaucht, die politisch interessant sind: Telefonspitzel aus dem Osten haben Gespräche abgehört und mitnotiert, die Kohl und andere über die Verwendung von illegalen CDU-Spenden führten. Doch die CDU will nicht, dass das Stasi-Material im Parteispenden-Untersuchungsausschuss genutzt wird. „Gauck stoppen!“, ärgerte sich gestern der innenpolitische Sprecher der Union im Bundestag, Erwin Marschewski, über den freigebigen Chef der Behörde für Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck.
Damit ist ein latenter Ost-West-Konflikt über den Umgang mit Spitzelmaterial offen ausgebrochen. Die Westler sind wütend dagegen, die Ostler wundern sich über die zweierlei Maßstäbe, die angewandt werden. „Das ist Akteneinsicht nach Laune“, sagte der Schweriner SPD-Fraktionschef, Volker Schlotmann.
Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin weiß, was die Leute aus dem Westen so entsetzt: „dass die Stasi in der Lage war, als gesamtdeutscher Geheimdienst zu operieren“. Der Politikwissenschaftler Staadt erforscht seit Jahren, wie die DDR in der Bundesrepublik arbeitete – und er hat seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht. Von Kohl mussten sich Staadt und andere Wissenschaftler dafür als „Mistkäfer“ titulieren lassen.
Die juristische und moralische Dimension des Konflikts klingt zwar kompliziert – aber sie ist gleichwohl klarer, als es sich mancher Wessi wünschen mag. Wenn jemand Opfer von Stasi-Spitzeln war, so darf das angesammelte Material in Prozessen nicht verwendet werden. Gegen die Täter, die haupt- und nebenamtlichen Zuträger Erich Mielkes, werden die Informationen verwendet – um zu vermeiden, dass die Stasi-Mitarbeiter wieder öffentliche Ämter bekleiden.
Der Opfer-Täter-Grundsatz wird durchbrochen, wenn es um Personen der Zeitgeschichte und politische Entscheidungsträger geht. In diesem Fall dürfen auch die Opferakten verwendet werden. Allerdings soll dies nicht etwa geschehen, um Politiker wie den Exkanzler privat vorzuführen oder strafrechtlich zu belangen. Die Akten sollen nicht zum Nachteil der Betroffenen ausgewertet werden, verlangt das Stasi-Unterlagen-Gesetz.
Der Politikwissenschaftler Staadt nimmt daher eine „Nein, aber“-Haltung ein: Vor Gericht und in Untersuchungsausschüssen sollten Opferakten keine Verwendung finden. „Aber ich bin unbedingt dafür, das Material der Öffentlichkeit zu vermitteln – zur historischen Aufklärung und zur politischen Bildung.“
Hubertus Knabe, ein anderer prominenter Stasi-Forscher, fordert, „dass es eine halbe Aufarbeitung der Geschichte nicht geben darf“. Auch die Akten über den Westen müssen erforscht werden. Knabe, der jüngst zwei Bücher über die Arbeit der Stasi im Westen veröffentlichte, sieht in der aktuellen Diskussion eine Gefahr: dass sich eine große Koalition bildet, „die noch mehr Steine auf die Stasi-Unterlagen über den Westen türmt, als dies bisher schon der Fall ist“.
In der Gauck-Behörde finden sich viel weniger Stasi-Akten über den Westen, als es ursprünglich gab. Sie wurden zur Wendezeit zu weiten Teilen geschreddert – oder von westlichen Geheimdiensten mitgenommen. Der US-amerikanische CIA etwa bringt gerade die Stasi-Kartei über Auslandsspionage nach Deutschland zurück. Der Termin ist nicht zufällig gewählt – nach zehn Jahren verjährt Spionage als Straftatbestand.
Helmut Kohl wurde indes vor wenigen Tagen wieder in Sachen Stasi aktiv: Er rief mehrfach bei Joachim Gauck an. Er solle Abhörprotokolle über ihn, Kohl, auf keinen Fall herausgeben. Doch diesmal hat Kohl Pech. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz sieht ausdrücklich vor, die Materialen an parlamentarische Untersuchungsausschüsse auszuhändigen.
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