Viel edler als Perlen

Zehn Männer gehören zu einem Gottesdienst, heißt es bei den Juden. Und was, bitte schön, ist mit den Frauen? Die sitzen derweil auf ihren Emporen und verstehen meist kein Wort von den hebräischen Gebeten. Ohne Einfluss sind sie deshalb nicht
von BOIKE JACOBS

Eine treue und zuverlässige Ehefrau ist sie und eine fürsorgliche Mutter. Morgens ist sie als Erste auf den Beinen, um für alle das Frühstück zu machen. Den Haushalt hat sie fest im Griff, der Garten, den sie pflegt, steht in voller Blüte. Auch im Berufsleben scheint ihr alles zu gelingen. Keiner organisiert so erfolgreich, keiner verhandelt so raffiniert wie sie. Zu alledem hat sie auch noch eine geschickte Hand, ganz gleich, ob es darum geht, ein Hemd zu flicken, einen Teppich zu weben oder ihr Arbeitsgerät zu reparieren. Und wenn für den Abend ein Bankett angesagt ist, erscheint sie an der Seite ihres Mannes in großer Abendrobe als von allen bewunderte Schönheit.

So zumindest hat König Salomon sie tausend Jahre vor Christi Geburt besungen. Seine Ode an die „tüchtige Frau, viel edler als die köstlichsten Perlen“ bildet in der Bibel den Abschluss seiner Sprüchesammlung. Bis zum heutigen Tag sagt ein frommer jüdischer Ehemann seiner Frau genau diesen Text an jedem Schabbat – als Dank für ihr segensreiches Wirken. Zeichen der Anerkennung und zugleich ein Ansporn, sich nicht auf eine einzige Rolle festlegen zu lassen.

Die Gleichberechtigung der jüdischen Frau? Kein Thema, möchte man nach diesem Text und dieser Tradition annehmen. Und wer noch Zweifel hegt, erinnere sich an Golda Meir. Der erste Staat, der eine Frau zur Ministerpräsidentin ernannte, war Israel. Hinter vorgehaltener Hand wurde die zupackende und resolute Golda Meir gar als „einziger Mann im Kabinett“ gerühmt. Dennoch war sie nicht nur eine Eiserne Lady, sie war auch eine fürsorgliche Mutter und ausgezeichnete Köchin. Amüsiert und bewundernd sprach man von Golda Meirs „Küchenkabinett“, weil sie die Ministerrrunde immer wieder einmal zu sich nach Hause einlud, sie mit Tscholent und gefilte Fisch beköstigte und am Ende bei einer starken Tasse Tee selbst strittige Regierungsfragen einvernehmlich gelöst wurden.

Typisch jüdisch? König Salomon jedenfalls hätte seine Freude an ihr gehabt. Wie an all den anderen starken Frauen aus dem Alten Testament. Wer kennt nicht die Geschichte von Judit, die den grausamen Feldherrn Holofernes erst in seinem Zelt verführte und danach einen Kopf kürzer machte? Oder die von Debora, die einen ausgeklügelten Feldzug gegen den mächtigen König von Kanaan organisierte und das unterdrückte Volk Israel zum Aufstand anstachelte? Die Prophetin und Richterin ist Vorbild für für eine Gruppe Berliner Frauen, die sich „Bet Debora – Haus Debora“ genannt und erst kürzlich eine „Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen und rabbinisch gelehrter und interessierter Jüdinnen und Juden“ organisiert hat. Vorträge und Gottesdienste wurden gehalten von jungen Frauen, die in Wien und London, Moskau und Budapest, Minsk und Prag amtieren.

Ein klassisches Beispiel für die religiöse Gleichberechtigung jüdischer Frauen? Leider nicht. Minderwertige Geschöpfe sind Frauen nach jüdischem Selbstverständnis ganz gewiss nicht. Aber aus religiöser Sicht liegt ihre Hauptaufgabe darin, die Speisegesetze zu beherrschen und einen koscheren Haushalt zu führen. Vor allem aber darin, die Kinder zu versorgen und religiös zu erziehen. Damit dafür genug Zeit bleibt, sind ihnen alle Gebote erlassen, die zeitgebunden sind. Nur die Kerzen zum Schabbat müssen sie anzünden, von der aktiven Gestaltung des Gottesdienstes und etlichen anderen religiösen Handlungen sind sie befreit.

Oder sind sie doch eher ausgeschlossen? Es scheint, dass sich im Laufe der Jahrhunderte die jüdischen Männer wenigstens das religiöse Terrain vollständig erobert haben. Priesterinnen, Prophetinnen oder schriftgelehrte Frauen wie seinerzeit Miriam, Debora oder Bruria sind in der orthodoxen Synagoge jedenfalls nicht mehr vorgesehen. Dort sitzen die Frauen getrennt von den Männern, zumeist auf einer eigens für sie errichteten Empore. Logenplatz oder Sperrsitz, das ist dabei die Frage. Denn wenn die Männer beim Gottesdienst auch aus der Thora vorlesen, die Gebete sprechen und die Predigten halten, die Frauen haben von der Empore aus den totalen Überblick über alles, was ihre Ehegatten und Söhne tun und lassen. Während die Männer sich im Gottesdienst fast ausschließlich der hebräischen Sprache bedienen, verstehen die meisten Frauen davon kein Wort und schwatzen daher auch bei den Gebeten oft ungeniert mit ihren Nachbarinnen. Eine Tatsache, die Bea Wyler, die einzige Frau, die derzeit in Deutschland als Rabbiner amtiert, unbedingt abschaffen möchte. In ihren drei kleinen Gemeinden Oldenburg, Braunschweig und Delmenhorst lernen Frauen daher unter anderem intensiv Hebräisch.

Jüdisches Wissen, das zum Beispiel für Hanna Hochmann, Dr. Ilse Perlman und Shoshana Ronen noch eine Selbstverständlichkeit war. Sie waren beim Berliner Treffen von Bet Debora Ehrengäste, weil sie Ende der Dreißigerjahre Studentinnen der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums waren. Eine Institution des Liberalen Judentums, das Frauen dieselben religiösen Rechte und Pflichten zugesteht wie den Männern. Die bekannteste Studentin dieser Berliner Hochschule war in den Dreißigerjahren Regina Jonas, sie war weltweit die erste Frau, die nach langen Kämpfen die Ordination als Rabbiner erlangte. Ausüben konnte sie diesen Beruf nicht mehr: Kurz nach ihrer Ordination wurde sie deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet.

Nun hoffen Berliner Jüdinnen von Bet Debora, an die in Deutschland gewaltsam unterbrochene Tradition anknüpfen und die Rolle der Frau im jüdischen Gottesdienst aufwerten zu können. Sie soll, so wünschen sie, endlich die Empore verlassen und bei den Gottesdiensten aktiv mitwirken können – auch als Rabbinerin und Kantorin. Das ist leicht gesagt und schwer getan. Ganz unverkennbar ist Bet Debora ein Produkt der Achtundsechzigergeneration, das spät, vielleicht zu spät in Deutschlands Synagogen vorzudringen versucht. Denn die jüdischen Youngsters haben mittlerweile ihre eigenen Ansichten.

Wie in christlichen Kreisen die Sekten ständig jugendlichen Zulauf bekommen, zieht es junge Juden mit Macht zur Orthodoxie chassidischer Prägung mit ihren strikten Regeln und ihrer rigiden Geschlechtertrennung. Die Frauen verhüllen dabei ihr Haupt nicht gerade mit einer Perücke, wie das bei polnischen Jüdinnen üblich war, aber für den Gottesdienst ziehen sie sich gern breitkrempige Hüte in die Stirn und bevorzugen formlose dunkle Mäntel aus grobem Stoff. Chassidischer Chic hat derzeit regelrecht Hochkonjunktur auf der Frauenempore.

Die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wiederum, die seit Jahren zu zehntausenden in Deutschland eine neue Bleibe suchen, sind atheistisch geprägt wie keine der Einwanderungswellen, die die jüdischen Gemeinden bisher haben integrieren müssen. Von jüdischer Religion fehlen den „Russen“ nicht nur jegliche Kenntnisse, sie lehnen sie oft genug rundweg ab. Wenn sie sich neben den alles überschattenden existenziellen Problemen überhaupt für Religiöses interessieren, bekommen sie das hierzulande ohnehin fast ausschließlich in orthodoxer Verpackung geliefert – nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen. Keiner der in Deutschland amtierenden Rabbiner kann in russischer Sprache unterrichten. Aber da gibt es die überaus rührige Gruppe der Lubawitscher, streng orthodoxer Chassidim, die nach der Oktoberrevolution aus der Sowjetunion nach Amerika oder England flüchteten. Dort entwickelten sie effektive jüdische Unterrichtssysteme. Und: Sie beherrschen zumindest teilweise noch die russische Sprache und sprechen zugleich Jiddisch, so dass sie sich in Deutschland verständigen können. Die jüdischen Gemeinden Berlin, Frankfurt, München, Köln, Hamburg, Offenbach und Potsdam haben daher schon vor Jahren orthodoxe Lubawitscher als Rabbiner eingestellt – zur Betreuung der Juden aus Moskau, Kiew und Taschkent.

Bleibt das Bild, das König Salomo vor fast dreitausend Jahren von der „tüchtigen Frau, viel edler als die köstlichsten Perlen“, zeichnete, also doch ein Ideal, das zumindest in Deutschlands jüdischen Gemeinden auch in den kommenden Jahrzehnten kaum verwirklicht werden wird? Wer so argumentiert und über die religiöse Unterdrückung jüdischer Frauen klagt, urteilt vorschnell. Denn für wen spielt die Religion in Deutschland überhaupt noch eine zentrale Rolle? Jüdische wie christliche Frauen zieht es derzeit viel weniger in Synagoge und Kirche als vielmehr in die Verwaltung ihrer Gemeinden. Und da haben sich zumindest die jüdischen Frauen längst ihre Plätze erobert. Irina Knochenhauer, in Moskau geboren, leitet nicht nur die jüdischen Gemeinden im Land Brandenburg, sondern hat ihren Sitz auch im Präsidium des Zentralrats der Juden in Deutschland. Und ihre Kollegin Charlotte Knobloch, seit zwei Jahrzehnten erfolgreiche Vorsitzende der Münchner Jüdischen Gemeinde, war über Jahre Stellvertreterin von Ignatz Bubis. Bereits kurz nach dessen Beisetzung erklärte sie selbstbewusst, sie wolle als seine Nachfolgerin kandidieren.

Dass sie den Sprung an die Spitze der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland schließlich doch nicht geschafft hat, ist nicht wirklich entscheidend. Wie es im Grunde auch keine große Rolle spielt, dass sie bei den jüdisch-orthodoxen Gottesdiensten in der Münchner Reichenbachstraße auch in Zukunft auf der Empore sitzen wird. Wichtiger ist, dass sie trotz dieser Einschränkung seit vielen Jahren das ist, was bereits König Salomon in seiner Sprüchesammlung rühmte: eine Hausfrau und Mutter, eine erfolgreiche Karrierefrau.

BOIKE JACOBS, 1944 geboren, früher Redakteurin der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“, lebt als Journalistin bei Köln