: „Ich bin eine, die nie aufhört“
Margrit Schiller war Mitglied der RAF. Und saß dafür sechs Jahre in Haft. Mitte der Achtzigerjahre floh sie nach Kuba. Jetzt kehrt sie erstmals nach Deutschland zurück. In ihrem Gepäck: ein persönliches, politisches Buch mit ihrer Geschichte. Ein Gespräch mit ihr in Montevideovon ANKE RICHTER
Wie groß war die Vorfreude auf den Besuch in der Heimat?
Mir hat der Boden unter den Füßen gewackelt! Ein Land wiederzusehen, das irgendwo, weiß der Teufel wie, auch meines ist – und doch nicht.
Haben Sie inzwischen Frieden mit dem deutschen Staat geschlossen?
Weil ich ihn nie geschlossen habe, werden sie mich auch nie in Ruhe lassen. Mein Name ist in jeder Kartei, und ich werde bis ans Lebensende vom Verfassungsschutz observiert werden. Natürlich werde ich heute nicht mehr die Waffe in die Hand nehmen, aber das System ist doch schlimmer als damals.
Trotz rot-grüner Bundesregierung?
Diese Regierung hat Profilierungsnöte. Rupert von Plottnitz, der mein Anwalt war, war Justizminister in Hessen. Was macht er da? Er behauptet, dass es keine besonderen Haftbedingungen für politische Gefangene mehr gäbe. Oder Otto Schily, ebenfalls ehemaliger Anwalt der RAF, mit seinen Law-and-Order-Parolen. Warum? Weil er beweisen will, dass er trotz seiner linken Geschichte ein guter Innenminister sein kann.
Nach Ihrer ersten Haftentlassung haben Sie ein paar Tage in einer WG mit Joschka Fischer verbracht . . .
. . . und da war er genauso wie heute. Ein Typ, dem es immer schon vorrangig um Macht ging.
Was hat Sie an Baader, Ensslin und Meinhof so fasziniert?
Dass sie sehr direkt und konsequent waren, ganz wach. Das ständige Diskutieren und Sich-auseinander-Setzen kannte ich bis dahin nicht. Ich hatte auch nie in einer WG gelebt oder war zu Demos durch die Welt gereist. Durch meine Erziehung war es eine enorme Anstrengung für mich, da hin zu kommen, wo sie schon waren.
War Andreas Baader so egozentrisch, dominant und eitel, wie ihn Stefan Aust in seinem „Baader-Meinhof-Komplex“ dargestellt hat?
In dem Buch wird ein negatives Abziehbild zelebriert. Andreas fand ich in keiner Weise unsympathisch, aber er hat halt total polarisiert. Es war nicht leicht, sich gegen so viel Energie durchzusetzen. Auch wenn mir das manchmal Probleme bereitet hat, finde ich es heute sehr produktiv. Meine Tochter zum Beispiel ist auch so – das ist schwierig, aber auch sehr toll.
Ihr Sohn trägt als Erinnerung an Ihren toten Freund Holger Meins den Zweitnamen Holger, Ihre Tochter den Zweitnamen Ulrike.
Ich wollte meinen Sohn eigentlich Andreas nennen, aber da haben in Kuba alle geschrien, weil das dort ein Frauenname ist. Mit diesen Namen wollte ich meinen Kindern ein Stück von meiner Geschichte mitgeben und besonders die Erinnerung an die, die in diesem Kampf getötet wurden. Das ist eine alte Tradition in der ganzen Welt, die ich gut finde.
Bei einem Festnahmeversuch von Ulrike Meinhof erschoss das RAF-Mitglied Gerd Müller einen Polizisten. Sie waren dabei und ebenfalls bewaffnet, aber haben nicht geschossen.
Da war eine innere Sperre. Ich glaube auch nicht, dass ich die aufheben kann. Ich lehne es nicht grundsätzlich ab, dass geschossen wird, aber von heute aus gesehen sage ich: Gewalt anzuwenden ist legitim unter bestimmten Bedingungen, aber sie hat vielleicht keinen Sinn.
Sie haben ein sehr persönliches Buch über Ihre RAF-Zeit geschrieben, mit so ehrlichen Sätzen wie: „In dieser Zeit und auch später habe ich andere Menschen selbstgerecht, überheblich und demütigend behandelt.“
Ich finde, dass mein Buch auch politisch ist. Aber es ist natürlich keine objektive historische Darstellung. Ich bin seit fünfzehn Jahren aus Deutschland weg und hätte diese Analyse nicht leisten können. Nur: Viele aus der RAF wissen auch nicht, was in den Jahren nach ihrer Verhaftung oder in der Zeit vor ihrer eigenen Teilnahme am Kampf in der RAF gelaufen ist.
Ist diese individuelle Geschichtsschreibung bei den früheren Genossen erwünscht? Irmgard Möller soll beim Konkret-Verlag interveniert haben.
Nun, das war für manche erst mal ein Problem. Ich habe ganz vielen Leuten, die nach Uruguay kamen, mein Manuskript gegeben, weil ich auch eine Auseinandersetzung darüber wollte. Irmgard war hier, direkt nachdem sie aus dem Knast kam. Sie fand, dass ich alles rauskotze und keinen Abstand dazu habe und dass es so nicht ginge. Danach habe ich noch mal an dem Text gearbeitet.
Haben Sie in Uruguay und in Kuba ehemalige RAF-Gefangene getroffen?
Günter Sonnenberg, Hanna Krabbe, Lutz Taufert waren zum Beispiel da. Es hat ihnen gut getan, einfach weit weg von Deutschland Luft holen zu können, ohne gleich mit Fragen bombardiert zu werden. Irmgard lief durch die Straßen und sagte: „Guck mal, wie schön der Himmel ist!“ Oder: „Ich dachte, ich sehe nie im Leben wieder das Wasser.“ Sie hatte hier Geburtstag und mit mir den ersten Wein seit 25 Jahren getrunken.
War ihnen die Haft anzumerken?
Schwieriges Thema. Wenn jemand direkt aus dem Knast kommt, merkst du das bei jedem. Mir tut das weh, weil ich weiß, dass so jemand noch gar nicht in der Realität ist. Es dauert lange, bis man ankommt. Ich weiß aus eigener Erfahrung: Es hat enorme Konsequenzen, wenn man so lange drin war. Nur sind die einem selber gar nicht bewusst.
Welche Konsequenzen?
Die Vorstellung von der Welt entwickelt sich von dem Moment an, wo du einfährst, nicht mehr weiter. Auf einer bestimmten Ebene bleibt man stehen, wird man eingebunkert, auch wenn man vielleicht intellektuell eine Menge Informationen bekommt. Das spüre ich hier bei den ehemaligen politischen Gefangenen in Uruguay: Frauen, die unter der Militärdiktatur zehn Jahre im Knast saßen, haben bis heute manchmal sehr harte Selbstverteidigungsmechanismen drauf. Die Männer haben oft Alkoholprobleme. Viele suchen sich junge Frauen und setzen da an, wo es mal für sie aufgehört hat. Die Frauen kriegen noch sehr spät Kinder, genauso wie ich.
Was ist mit Ihren Selbstverteidigungsmechanismen?
Kuba hat mir sehr geholfen, mich selbst in Frage stellen zu lassen. Auch mal zuzugeben, dass jemand Recht hat, der mich kritisiert. Dort habe ich eine neue Form von Bescheidenheit gelernt, für die in der ständigen Konfrontation in Deutschland gar keine Luft war. Da gab es nur Angriff und Verteidigung. Wenn du ständig als Staatsfeind in die Ecke gestellt wirst und in die Fresse kriegst, dann springst du natürlich jedem sofort ins Gesicht.
War das typisch fürs Gefängnis oder typisch für die RAF?
Beides, und sicher nicht nur dafür.
War der Umgang der Frauen in der RAF härter als bei den Männern?
Draußen nicht. Im Gegenteil. Ich habe aus dem Knast noch gut im Kopf, dass Frauen hintenherum sehr spitz sein können. Allerdings sind in den Kleingruppen bei den Frauen wie den Männern die gleichen kleinen Bösartigkeiten und Verletzungen abgelaufen. Im Gegensatz zu Uruguay, wo nur die Frauen in Gruppen waren, wurden hier keine spezifischen Haftbedingungen geschaffen. Die menschlichen Reaktionen darauf waren ziemlich ähnlich.
Bei der Botschaftsbesetzung in Stockholm sollten Sie mit freigepresst werden und standen auf der Liste der Gefangenen. Zwei Menschen wurden bei der Aktion erschossen.
Ich möchte nicht jede einzelne Aktion der RAF kommentieren.
Wann kam die Trennung von der RAF?
Schwer zu benennen. Es war kein Verein, in den man ein- und austritt, sondern der Versuch, auf eine bestimmte Art zu kämpfen. Im Knast habe ich nach mehreren Zusammenbrüchen und Brüchen entschieden, diese Schärfe der Konfrontation nicht mehr zu suchen.
Sie galten als Verräterin, weil Sie 1975 vorzeitig den fünfmonatigen Hungerstreik abgebrochen hatten.
Der Hungerstreik war für mich extrem hart, weil ich ganz allein war. Ich konnte mit niemandem drüber reden. Ich verlor alle Vorstellungen davon, was außerhalb von mir ist. Jeden Tag der Streik, die Zwangsernährung, die Bullen, die mich dafür rausgeprügelt haben und mir die Sonde in den Hals zwangen. Ich lag danach wie nach einer Vergewaltigung auf dem Bett und habe keine Luft mehr bekommen. Daran ist meine Kraft zerbrochen.
Trotzdem haben Sie beim zweiten großen Hungerstreik mitgemacht.
1976 konnten wir immer zu zweit eine Stunde am Tag zusammen sein. Ich konnte darüber reden, was bei mir gelaufen und wie unerträglich die Zwangsernährung gewesen war. Dadurch habe ich eine ganz andere Stärke gehabt. Diese Erfahrung hat für mich bis heute eine besondere Bedeutung: Was es bedeutet, allein zu sein oder gemeinsam kämpfen zu können. Die uruguayischen Gefangenen hier sagen über unsere Knastsituation: Das hätte ich nicht ausgehalten.
Gab es bei Ihnen jemals Hass auf die RAF?
Nein, ich hatte eher Ängste. Mein Verhältnis zur RAF war so, dass ich nie wirklich Zeit hatte, was mit ihnen zu entwickeln. Ich lernte sie ja erst sieben Monate vor meiner Verhaftung kennen.
War das Gefängnis eine verlorene Zeit?
Nein, ganz sicher nicht. Der Knast war die Schule für meine politische Bildung und zutiefst menschliche Erfahrungen. Ich weiß jetzt: Auch wenn ich nicht mehr kann, bin ich immer noch ich. Das konnte ich bis dahin nicht wissen.
Waren Sie in der radikalen linken Szene eine heimliche Heldin, als Sie 1979 aus dem Knast kamen?
Aber so was von überhaupt nicht! Ich hatte ja schließlich den Hungerstreik abgebrochen. Ich sprach auf einer Mammutveranstaltung, am 17. Juni 1979 bei „Rock gegen Rechts“ über den Hungerstreik und die Situation der Gefangenen, weil niemand anders sich getraut hat. Das war nicht einfach, denn ich galt ja als eine, die nicht mehr will.
Warum wollten Sie dennoch?
Es war für mich klar, dass ich mich nicht zurückziehe. Ich bin eine, die nie aufhört. Also habe ich eine Frauengruppe der Antiimperialisten mit aufgebaut, bin in Europa rumgefahren, hatte mit den Angehörigen der Gefangenen zu tun. Weil ich selber im Knast war und das nicht vergessen wollte, wie die Bullen mit mir umgegangen sind, wollte ich etwas dagegen tun, dass sie die Gefangenen weiter so behandeln. Das war eine Aufgabe für mich.
Wollten Sie bei den früheren Mitkämpfern deren Ansicht über Sie ändern?
Nein. Wenn es die Organisation nicht gibt, an der man sich orientiert, dann funktioniert dieser Mechanismus des „Ich will mich beweisen“ nicht. Als ich freikam, waren die Gefangenen enorm isoliert. Der Zusammenhalt kippte, weil es aufgrund der Kontaktsperren keine Kommunikation gab. Und 1977 hatte draußen so reingehauen, dass da erst mal nichts mehr war: keine Gruppen, nur Individuen. Und ein paar Illegale, die in enormen Problemen steckten.
Wie stehen Sie zur Gewalt der RAF?
Gewalt wird bis heute in einem ganz entsetzlichen Maße angewendet von denen, die Macht haben. Wenn die sie missbrauchen und überhaupt kein Problem damit haben, dass tausende durch ihre Politik oder Waffen sterben, dann ist das für mich das wirklich große Verbrechen. Ist ein Verteidigungsminister ein Mörder, der Bomber losschickt, oder ist derjenige ein Mörder, der verhindern will, dass er das tut? Das sind nicht Moral-, sondern Machtkategorien, und die kann ich so nicht akzeptieren.
In Ihrem Buch werden die von der RAF Ermordeten sehr kurz und emotionslos erwähnt.
Ich habe viele Tote erlebt in meiner Geschichte und rechne sie nicht gegeneinander auf. Konkret gibt es einen toten Menschen, aber es gibt auch einen konkreten Menschen in einem Pharmakonzern, der dafür verantwortlich ist, dass irgendwo siebzigtausend Leute krepieren, weil die Produktion eines Medikaments eingestellt wird, an dem man nichts mehr verdienen kann. Natürlich hat dieser Mann auch Familie, und ich respektiere, dass da menschliche Konsequenzen und Schmerzen sind. Aber auch die Nazikriegsverbrecher hatten Angehörige.
Gab es je Berührungspunkte mit einem Opfer?
Vor acht Jahren habe ich in Havanna am Flughafen neben der Familie des Bruders von Gerold von Braunmühl gewartet. Er war ja UNO-Berater gewesen, unter anderem auch in Kuba. Später im Flugzeug saß ich dann neben seinem Neffen. Da hatte ich schon ein Scheißgefühl. Ich wüsste nicht, auf welcher Ebene ich mit dem hätte reden können.
Hat die RAF dazu beigetragen, dass es auf der Welt besser zugeht?
Alle Bewegungen, die versucht haben, den Kurs auf dieser Welt zu ändern, sind stecken geblieben und hatten ihre historischen Begrenzungen – es sieht trauriger aus denn je. Doch in Kuba und auch bei den Linken in Uruguay gibt es viel Respekt für diesen Versuch von uns, in Deutschland etwas zu ändern.
Bei der deutschen Bevölkerung hielt sich die Begeisterung aber in Grenzen.
An dem Punkt beginnt eine schwierige Diskussion. Als so viele Leute in Deutschland für den Kosovokrieg waren, konnte ich nur sagen: Gott sei Dank, dass ich da nicht bin! Oder wenn es allen um Arbeitsplätze geht, aber egal ist, ob damit woanders Menschen ausgebeutet und unterdrückt und umgelegt werden, dann geht es mir mit diesem Land, in dem ich geboren bin, gar nicht gut.
1985 wurde der US-Soldat Edward Pimental aus einer Disko gelockt und ermordet, nur um an seine Papiere zu kommen. Bei vielen Linken hatte die RAF damit alle Sympathien verspielt.
Ich habe das erst von Kuba aus mitbekommen und fand diese Geschichte völlig unmöglich. Auch die Art, wie damit umgegangen wurde. Es gab Gefangene, die waren dagegen, aber durften die Differenzen nicht zeigen. In so einem gravierenden Fall darf doch einfach nicht sein, dass man das Maul halten muss, um eine gemeinsame Linie zu unterstützen. Die Erklärungen der RAF dazu kamen viel zu spät und waren eine Schweinerei.
Das sagen Sie so offen?
Ich kenne niemanden, der heute nicht so denkt. Damals liefen dadurch eine Menge Spaltungen, es war ein politischer Bruch.
Birgit Hogefeld sagte: Wir sind im Laufe der Zeit jenen, die wir bekämpft haben, immer ähnlicher geworden.
Der Satz sagt mehr über Birgit und die Regression, die bei ihr abgelaufen ist, als über die RAF. Dadurch, dass immer wieder ein ganzes Kommando verhaftet wurde, existierte keine Erfahrungsvermittlung. Auch im Fall Pimental haben die RAF-Leute wieder ganz neu angefangen, sind vorn los gestürmt und haben so richtig blöde reingehauen – ohne politischen oder menschlichen Durchblick. Wenn sich Fehler im Laufe von zehn Jahren immer wiederholen, hat der letzte Fehler eine ganz andere Wirkung als der erste. Das ist nach meinem Verständnis bei der RAF passiert.
Warum haben Sie Deutschland von einem Tag auf den anderen verlassen?
Ich war zweimal nach Paragraph 129 verurteilt. Da hätten sie mir beim dritten Mal ganz einfach wegen irgendeinem kleinen Scheißdreck Sicherheitsverwahrung geben können. Es haben damals Leute ihr Urteil gekriegt wegen eines Flugblatts; da stand nicht drin: „Bewaffnet Euch!“, sondern nur die Forderung nach Zusammenlegung.
Diesmal waren Sie nur mit Handtasche und Wörterbuch bewaffnet . . .
Ich konnte kein Wort Spanisch und habe mir auf dem Flug den Satz „Pido asilo político“ („Ich bitte um politisches Asyl“) zusammengesucht. Als die Immigrationsbeamten das hörten, haben sie sich kaputtgelacht. Bis dahin kannten sie nur deutsche Touristen, denen jemand die Brieftasche geklaut hatte.
Welche Probleme hatten Sie in Kuba?
Zum Beispiel mit dem wahnsinnigen Machismo. Da kam ich ja wirklich vom anderen Stern. Die dachten, ich habe eine Meise mit meinem Feminismus. Und als ich schwanger wurde, existierte ich nicht mehr, sondern nur noch mein Bauch.
Haben Sie sich schon immer Kinder gewünscht?
Nein. Mir war schon mit siebzehn klar, dass ich keine wollte. Die politische Militanz hat das noch verstärkt. Ich wollte nicht mit Kindern umgehen und habe mich stets verschlossen, damit mir da emotional nichts dazwischenkommt. Außerdem fand ich Deutschland sehr kinderfeindlich. Kuba dagegen ist ein Paradies für Kinder. Ich hatte unendlich Zeit, es gab keinen Druck, keine Verfolgung. Und Nicolas wollte unbedingt ein Kind mit mir. Als ich diesen Gedanken zuließ, war ich auch schon schwanger.
Und dann gleich Zwillinge . . .
Kaiserschnittfrühgeburten. Das erste Jahr nach der Geburt habe ich nie länger als eine Stunde am Stück geschlafen. In Kuba gab es keine Plastikwindeln, Strom und Wasser nur wenige Stunden am Tag. Ich habe die Windeleimer aus dem fünften Stock geschleppt und war mit meiner Kraft am Ende: Allein mit den Kids, der Vater der Kinder war oft weg, Parasiten und Durchfall. Es hat mich alles überfordert.
Wie haben Sie sich in Kuba verändert?
Kuba hat mir geholfen, in einer anderen Freiheit anders unabhängig zu sein. Mich selber als Kriterium zu nehmen und nicht dieses „Das darf man“ und „Das sollte man“ und „Das ist gerade angesagt“, das es ja überall gibt. In Kuba war ich „die Andere“ in einer völlig verschiedenen Kultur.
Warum dann Uruguay?
Hier leben viele ehemalige politische Gefangene – zwanzig Prozent der Bevölkerung saßen während der Militärdiktatur in Haft oder gingen ins Exil. Ich hoffte, hier meine Geschichte wiederzufinden. Aber dann wurde es erst mal eine Bauchlandung. Wir kannten niemanden, hatten keinen Pfennig Geld zum Leben. Ich wusste morgens oft nicht, was ich meinen Kindern mittags zum Essen geben sollte. Dieser Kampf ums Überleben war eine schlimmere Demütigung für mich, als nackt vor den Bullen zu stehen.
Währenddessen wurde Birgit Hogefeld verhaftet und Wolfgang Grams bei der Festnahme erschossen.
Das Rachebedürfnis des deutschen Staates ist unendlich. Sie hätten ihn nicht umlegen müssen, aber sie wollten es so haben. Da kriege ich dann meine Wut und meine Trauer und meinen Hass.
Haben Sie Kontakt zu politischen Gruppen in Uruguay?
Ja, natürlich, aber ich will mich in keine Organisation integrieren, egal ob Tupamaros, Anarchisten oder Kommunisten, sondern konkrete Projekte mit Leuten auf die Beine stellen. Die Zeit der Militärdiktatur von 1972 bis 1985 ist längst nicht aufgearbeitet, geschweige denn dass die Verantwortlichen im Militär zur Rechenschaft gezogen wurden. Ein stadtbekannter Folterer hat am Ende meiner Straße eine große Disko. Hinter der demokratischen Fassade versteckt sich die Vergangenheit, ähnlich wie in der BRD nach 1945.
Die Tupamaros waren das Vorbild der ersten RAF-Generation. Die Stadtguerilla ist heute Teil des linken Parteienbündnisses in Uruguay und hat zwei Sitze im Senat. Hätte die RAF von ihrem Weg in die Legalität lernen können?
Die Situationen waren zu verschieden. Es ist etwas völlig anderes, wenn es viele sind, die kämpfen und verhaftet werden. Übrigens finden es auch dort so manche „demokratischen“ Politiker furchtbar, dass ein Tupamaro jetzt Senator ist. Sie haben aber kein Problem damit, einen der schlimmsten Folterer während der Diktatur als persönlichen Adjutanten des Generalstabskommandeurs zu feiern.
Vor zwei Jahren gab die RAF ihre Auflösung bekannt.
(schweigt) Das war ja lange überfällig. (schweigt wieder) Ich kann darüber keine öffentliche Diskussion beginnen, die ich mit mir selber noch nicht geführt habe. Wenn ich hier generelle Analysen abgebe, würde ich jede Bescheidenheit verlieren, die ich für mich beanspruche.
Gibt es für die ehemaligen RAF-Gefangenen ähnliche Selbsthilfegruppen wie für die Betroffenen in Uruguay?
Es gibt eine Gruppe von zehn Exgefangenen, die sich regelmäßig treffen und versuchen, mit ihren Erfahrungen klarzukommen. Aber da kann ich nicht mal eben als Besucherin auftauchen. Da wird auch nach außen nicht gequatscht. Für die Leute in Uruguay ist die Situation eine andere, weil man ständig jemanden trifft, ob in der Kneipe oder beim Elternabend, mit dem man im Knast saß.
Hätten Sie nach der Haft psychotherapeutische Hilfe gebraucht?
Ich weiß nicht. Ich habe selbst Psychologie studiert und genieße sie mit Vorsicht. Da läuft so viel Mist ab, der den Menschen überhaupt nicht hilft, vor allem nicht, wenn es um jemand geht, der ein politisches Bewusstsein, eine politische Praxis und deswegen politische Verfolgung erlebt hat. Meine Therapie war, dass ich mein Buch geschrieben habe. Seitdem kann ich mit meiner Geschichte anders und selbstbewusster umgehen. Die Erinnerungen sind nicht mehr diese Bedrohung, die mich nachts im Albtraum einholen kann.
Empfinden Sie sich als Opfer?
Da steckt sicher ein zentrales Problem. Das Wissen, historisch verloren zu haben. Dass du nicht hingekriegt hast, was du wolltest. Das greift als psychologischer Mechanismus, als Schuldgefühl.
Wissen Ihre Kinder von Ihrer Vergangenheit?
Bis sie nach Uruguay kamen, nicht. Ich wollte sie in Kuba nicht zur Doppelzüngigkeit erziehen. Aber in Montevideo waren fast alle meine Freunde im Knast. Da waren sie ganz baff: „Wie, du auch, Mama?“
Befürchten Sie, dass Ihre Kinder später hören werden: „Eure Mutter war eine Terroristin.“?
Nö (lacht). Sie wissen ja Bescheid. Ich verstecke nichts vor ihnen. Was sollte sie da erschrecken?
Was wäre, wenn Ihr Sohn ausgerechnet Polizist werden möchte?
Das wäre eine Rebellion, die ins Mark trifft. Wenn die eintritt, dann klafft etwas auseinander zwischen dem, was man sagt, und dem, wie man lebt. Ich versuche, das zu leben, was ich sage. Wahrscheinlich mache ich trotzdem meine Fehler, nur genau andersherum als meine Eltern. Ich hatte eine totale Scheißkindheit.
Klaus Jünschke, ehemals RAF, sagt: „Wer diese Welt verändern will, tut ihr den größten Gefallen, wenn er bei sich anfängt.“
Den Anspruch, sich selbst zu verändern und bei sich anzufangen, den gab es bei der RAF ganz ausgesprochen.
Wo stehen Sie heute politisch?
Es gibt nach wie vor Kapitalismus und Imperialismus, und er hat noch viel mehr Apparate und Macht zur Verfügung als früher. Die Fragen sind dieselben, aber die Lösung ist nicht klar. Wie kann man trotzdem einen Weg finden, ohne nur darauf zu warten, dass alles zusammenbricht?
Die RAF nahm für sich in Anspruch, dass sie eine Antwort hat.
Sie hatte zumindest ein Stück des Weges vor Augen. Es war immer klar, dass es nicht nur eine Antwort braucht, sondern viele. Ich selbst habe heute keine, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht weitersuche.
ANKE RICHTER, 36, lebt in Kiel. Für ein Portrait in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Amica“ besuchte sie als erste Journalistin Margrit Schiller in ihrem Exil in Uruguay.
Fototext:Margrit Schiller im Gespräch in Montevideo: „Ich habe keine Antwort, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht weitersuche.“
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