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Der Landsmann

Neufeld fährt ein dickes Auto. In seiner Firma spricht man Russisch. Sein wichtigster Geschäftspartner ist sein Bruder. Was geht vor sich in der großen Lagerhalle mit der Aufschrift „Neufeld Import-Export“? Die rote Mafia im nordrhein-westfälischen Kalletal? Ganz falsch!

von KATHARINA BORN

„Die rote Mafia, das sind die Russen. Wir machen so was nicht.“ Nikolai Neufeld ist Geschäftsführer einer GmbH mit fünf Tochtergesellschaften, die er selbst gegründet hat. „Solange wir die letzte Einwanderergruppe sind, spricht man über uns. Aber wir integrieren uns schneller als die Türken und die Italiener vor uns. Weil Deutschland unsere Heimat ist.“

Seit er in Deutschland angekommen ist, hat er 25 Kilo zugenommen. „Um Gottes Willen, schreiben Sie das nicht!“ Dann lacht er gönnerhaft. „Na gut, schreiben Sie zwölf.“ Seinen um die hundert Angestellten hat der mittlerweile millionenschwere, russlanddeutsche Unternehmer Aerobic verordnet – zweimal die Woche, während der Arbeitszeit, im firmeneigenen Fitnessraum. „Das motiviert und hält gesund“, sagt der 39-Jährige mit starkem russischen Akzent. „Und wer gesund ist, arbeitet gut.“

Neufeld hat es in Kalletal bei Bielefeld innerhalb von zehn Jahren von null auf um die 80 Millionen Mark Umsatz jährlich gebracht: Fluglinienvertretung, Reisebüros, Versandgeschäft, Import-Export und zwei Zeitungen. Er wirkt ein wenig grobschlächtig hinter dem zu groß geratenen Versandhauskatalog-Konferenztisch. Aber der riesige Chefsessel fängt das auf, und der schwarze Anzug mit der roten Krawatte verleiht ihm, was Geschäftsleute unter weltläufiger Eleganz verstehen.

Im Winter 1991 hat Neufeld seine erste Firma gegründet. In zwölf Geschäften verkaufte er russische Spezialitäten und Nostalgieartikel – Konserven, Buchweizen, Bonbons und Spielzeug. Die ersten Aussiedler konnten ihren Verwandten in Russland und Kasachstan über seine Läden Lebensmittelpakete zukommen lassen. Schwierig sei das alles nicht gewesen, sagt er. Schließlich habe er den Markt als Erster entdeckt. Einen Kredit hat er aufgenommen, ein paar tausend Mark, Zulieferer gesucht, und schon war er dabei. Neufeld zündet sich noch eine rote Marlboro an. Natürlich, gibt er zu, sei er erst mal auf die Nase gefallen.

In der kleinen Siedlung in Kasachstan, aus der Nikolai Neufeld stammt, lebten viele Russlanddeutsche. Solange er sich erinnern kann, war Deutschland dort das Thema Nummer eins. „Wir sind mit dem Gefühl geboren, dass wir nach Deutschland müssen“, sagt er, „Es war nur eine Frage der Zeit.“

Ursprünglich hatten die Großeltern in der Ukraine unweit der Karpaten gesiedelt. Genaues weiß Neufeld darüber nicht: „Vielleicht sollten wir irgendwann mal die Stammbücher anfordern.“ Neufelds Vater wurde bereits in einem Kinderheim in Tscheljabinsk geboren, die Familie war deportiert und auseinandergerissen worden. Wie viele hunderttausend Russlanddeutsche mussten die Neufelds später in Kasachstan siedeln. Für die Russen dort waren sie „die Faschisten“. Als in Nikolais Schulklasse einmal aufgesagt werden sollte, zu welcher Nation jeder gehöre, sagte sein russlanddeutscher Freund, er sei Faschist.

Neufeld war einer der Besten in der Schule. Er bekam Stipendien und lehrte später an einer militärischen Fachhochschule. „In die Politik hätte ich natürlich nicht gehen können“, sagt er. „Das ist wie hier in Deutschland. Hier würde mich doch auch niemand wählen als Russlanddeutscher.“

Am 19. Januar 1990 flog er nach Deutschland. Seine Eltern und sein Bruder Johannes waren mit den ersten Aussiedlern schon ein paar Monate früher gekommen. Nikolai wurde als einziger zunächst nicht aufgenommen – die deutschen Vorfahren seien nicht ausreichend nachgewiesen. „Im Flughafen wollte mir der Beamte das Rückflugticket aus der eigenen Tasche zahlen, so gern wäre er mich losgeworden. Da hab ich kapiert, auch die Heimat wird dir nichts schenken. Ich habe gleich gelernt, selbst für mich zu kämpfen.“

Zunächst waren die Neufelds überrascht. Im Fernsehen in Kasachstan zeigte man immer Bilder von Menschen, die in Deutschland auf der Straße leben mussten. Tatsächlich gab es nicht nur eine Notwohnung, sondern sogar einen Sprachkurs. Das Arbeitsamt gewährte noch eine kaufmännische Weiterbildung, und das war’s. Die zwei erwachsenen Söhne lebten mit ihren Frauen, den Kindern und den Eltern zusammen in einer Zweizimmerwohnung. Nach dem Mauerfall, als die Ostdeutschen kamen, fanden sie erst recht keine Wohnung mehr. Enge und Armut waren sie gewohnt. Aber dann sagte sein Sachbearbeiter im Arbeitsamt, nicht mal die Deutschen bekämen Arbeit, Neufeld könne seine Bewerbungen gleich vergessen. Da beschloss er, sich selbstständig zu machen.

Das Geschäft mit den Nostalgieartikeln lief nur schleppend, also verkaufte er die Läden. Stattdessen setzte er eine Annonce zur Vermittlung von Handelskontakten in die Zeitung – die Wirkung war verblüffend. Diesmal hatte Neufeld tatsächlich eine Marktlücke entdeckt: Immer mehr Firmen, Transportgesellschaften, Geschäftsleute meldeten sich, später auch Großhändler. Anfangs wurde er noch rausgedrängt, sobald das Geschäft lief. In den Verträgen hatte er die Inflation nicht bedacht und verlor große Beträge. Manchmal wurde die Provision gar nicht erst gezahlt.

Nach den ersten Misserfolgen verließ ihn seine Frau. „Ich kam nach Hause, mit den ganzen Schulden über dem Kopf, da hatte sie schon ein eigenes Konto.“ Die 16-jährige Tochter hat Neufeld erst jetzt, fünf Jahre nach der Trennung, wiedersehen dürfen. Aber er hat ohnehin kaum Zeit für die Familie. „Vielleicht wird man später mehr darüber nachdenken“, sagt er, und ist schon wieder beim Geschäft. „Jetzt ist keine Zeit für so was.“

Neufeld packt einen Musterkoffer ein, fährt auf eine Messe und kommt mit lauter Verträgen zurück. Schuhe, Kleidung, Möbel – in Russland ist fast alles gefragt, denn produziert wird dort kaum noch. Neufeld ist jedesmal froh, wenn er wieder in Deutschland ist. „Vor ein paar Jahren dachte ich noch, da ist was zu machen. Aber da passiert gar nichts. Die Menschen sind besser geworden, aber die Wirtschaft ist Schrott. Nicht zu reparieren.“

Die Firma wurde zur GmbH umgewandelt, der Bruder stieg ein, übernahm wegen seiner bescheidenen Deutschkenntnisse den Großteil der Geschäftsreisen nach Russland, man erweiterte. Beim Arbeitsamt lachten die Beamten zuerst, als die Neufelds zwanzig bis dreißig Leute anforderten. Schließlich zahlte man aber doch die Weiterbildung für sämtliche Einstellungen, die die Brüder sich gesucht hatten. Bei Neufeld arbeiten nur noch Russlanddeutsche. Die Sprachkenntnisse der deutschen Azubis reichten auf Dauer nicht aus.

Neufeld flog ganze Charterflugzeuge voll mit Autokäufern ein und vermittelte ihnen Gebrauchtwagen. Aber der angekaufte Parkplatz für rasante Probefahrten wurde in der idyllischen Landschaft zwischen Ems und Weser bald zum Politikum. Außerdem gab es immer wieder Probleme mit den Botschaften wegen der Visa. Als 1995 einer der Geschäftsleute nicht mehr zurück wollte und Asyl beantragte, war es damit vorbei. Neufeld flog alles um die Ohren. Er zog sich zurück auf das Geschäft mit den Aussiedlern.

Inzwischen hatte Neufeld die Vertretung für eine russische Fluggesellschaft übernommen. Bald kamen Kontakte für die Lufthansa dazu und eigene Charterflüge ins sibirische Omsk und nach Orenburg. Als Neufeld es satt hatte, den Reisebüros Provisionen zu zahlen, machte er ein eigenes auf. Dann lief alles „wie bei Neckermann“. Im Winter, wenn keiner reist, hatten seine Angestellten nichts zu tun. Also begann er mit dem Versand von Nostalgieartikeln: Geblümte Heizdecken, russisches Porzellan, gerahmte Drucke einer Troika im Schneegestöber, auch die bewährten Carepakete für die Verwandten in der Ukraine fanden soliden Absatz.

Die Idee, den Versand anstatt eines Katalogs durch eine eigene Zeitung mit ganzseitiger Reklame anzukurbeln, erwies sich als genial. Der zunächst kostenlose Semljaki (Landsmann) – eine Monatszeitung, die hauptsächlich über Naturheilkunde und Integrationsthemen berichtet – trägt sich seit einem Jahr mit einer Auflage von 75.000 selbst. Auch das zweite Blatt, Woprosi i Otweti, Lebenshilfe für Aussiedler in „Fragen und Antworten“, ist unpolitisch gehalten, um niemand in der zersplitterten Lesergruppe vor den Kopf zu stoßen. In Deutschland leben immerhin rund drei Millionen russischsprachige Menschen, vom Russlanddeutschen bis zum jüdischen Emigranten.

Dass seine Zeitungen vor allem Leidensgeschichten von kaum integrierten Aussiedlern erzählen, hält er für normal. „Die müssen erst begreifen, dass sie ihr Glück selbst machen müssen“, sagt Neufeld. „Die Russlanddeutschen in der GUS hatten Angst vor dem Leben auf der deutschen Straße, und jetzt sitzen sie dort, in Kasachstan und der Ukraine, auf der Straße. Die Politiker wissen das genau. Trotzdem dürfen die nicht herkommen. Aber man hat doch angefangen, die Leute herzuholen. Dann muss man es auch beenden.“

Die Kalletaler machten sich bald Gedanken, was in dem kleinen Flachbau und dem angrenzenden Import-Export-Lager der Neufeld GmbH vor sich geht. „Die Russen drehen da was“, hieß es. Als Neufeld die Gerüchte zu Ohren kamen, hat er einen Tag der offenen Tür organisiert und Geschäftsleute der Umgebung eingeladen. „Dann war alles in Ordnung. Ich bin hier schließlich der beste Steuerzahler am Ort. Ein paar deutschen Unternehmen habe ich schon aus dem Konkurs geholfen, weil ich ihre Schuhe in die GUS verkauft habe.“

Import-Export-Läden sähen überhaupt nur so verdächtig aus, weil sie nicht laufen. Außer, dass dort Geschäftsleute Fehler machten, sei da nichts Geheimnisvolles. „Wenn man mich auf der Straße beschimpft, weil ich Russisch spreche – und das tut immer irgendjemand –, dann ist mir das egal. Es ist die Geschichte meines Volkes, beschimpft zu werden. Aber es tut weh, wenn man mich einen Russen nennt.“

Demnächst fliegt Nikolai Neufeld mit seiner Zeitungsbelegschaft nach Teneriffa. „Wir nehmen alles mit und planen da am Strand die Semljaki-Nummern für das nächste halbe Jahr. Das hebt die Stimmung. Aber schreiben Sie das nicht.“ Er zwinkert mir zu. „Sonst erfährt das die rote Mafia, und ich muss eine Kalaschnikow mitnehmen.“

KATHARINA BORN, 26, lebt als freie Journalistin in Berlin und – zur Zeit – in Kiew

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