piwik no script img

Triebe aus der Pillendose

Sie kommen so sicher wie die Depression im Winter: die Frühlingsgefühle. Die finden wir dann aber ganz angenehm, verzagen eher, wenn sie einmal ausbleiben. Doch schlägt die Wissenschaft der Schöpfung natürlich längst ein Schnippchen und hilft nach. Von saisonal steigenden und fallenden Säften berichtet

SUSANNA KRAMARZ

Hormone. Hormone sind schuld, wenn das ganze Land im Mai wieder Lust auf Haut hat und auf mehr. Die Evolution hat sich diesen zwingenden alljährlichen Gefühlskick zu einem einzigen Zweck ausgedacht: Im Sommer gezeugt, wird das Baby im kommenden Frühjahr geboren, also in die warme Jahreszeit hinein, ideal für die Aufzucht einer nesthockenden Spezies.

Die Natur gibt sich alle Mühe, uns bei der Produktion von Nachkommen Spaß zu bereiten: Weibliche Hormone (Östrogen und Gestagen) machen Brust und Hüften rund, die Taille eng, die Haut glatt, die Haare glänzend, lassen Eier aus den Eierstöcken springen und ungeborene Babys sich im Bauch ihrer Mütter wohl fühlen. Männliche Hormone (Testosteron) machen den Brustkorb breit, die Hüften schmal, die Muskeln hart, steigern Blutdruck und Aggressivität und bringen die Spermien auf den richtigen Weg.

Ungefähr vom sechzehnten bis zum dreißigsten Lebensjahr machen maximale Blutspiegel dieser Hormone ihren Besitzerinnen und Besitzern das Leben zum Himmel und zur Hölle. Danach werden sie ganz langsam etwas handzahmer, und irgendwann ist es dann passiert: Auf einmal stellt frau oder mann ohne Bedauern fest, dass ein Mai ohne Balz vergangen ist, weil es etwas Wichtigeres zu tun gab, wie zum Beispiel sich um die Kindergeburtstage und Windpocken zu kümmern oder – wesentlich angenehmer – das erste Mal wirklich interessiert die Gestirne des Maihimmels zu studieren. Wer noch nicht in diesem durchaus amüsanten Stadium angekommen ist, meint, das müsse der Anfang vom Ende sein. Keine Haut, keine Freude. Keine Balz, kein Leben.

Ausgerechnet beim Homo sapiens stimmt das aber nicht. Männer bleiben bekanntermaßen praktisch bis ans Lebensende zeugungsfähig, eine ordentliche Gesundheit vorausgesetzt. Sie haben häufig nur nicht mehr viel Lust darauf. Frauen verlieren ihre Fähigkeit, Nachwuchs zu gebären, lange vor dem natürlichen Tod. Eine Tatsache, die – männliche? kinderlose? – Anthropologen bis heute nicht klären können. Eine sympathische Erklärungsvariante ist die, dass der männliche Homo sapiens im Gegensatz beispielsweise zur männlichen Ente sich schon in Vor- und Frühzeit nicht ernsthaft um die Aufzucht seines über viele Jahre pflegebedürftigen Nachwuchses gekümmert hat, weil er allzu begeistert ins Jagen und Kämpfen verwickelt war. Und dass diejenigen Steinzeitgeschwister eine größere Überlebenschance hatten, um die sich eine babylose Großmutter kümmerte, während die Mutter Haushalt, Acker, Vieh und Gemüsegarten versorgte. Auf jeden Fall gibt es keine andere Tierart, in der die kräftezehrende gleichzeitige Aufzucht mehrerer unreifer Nachkommen ein ähnlicher Dauerzustand werden kann wie bei Menschenmüttern, die keine Verhütungsmethoden kennen.

Aus gutem Grund war es eine Protagonistin der Frauenbewegung, die den Hormonforscher Carl Djerassi, den „Vater der Pille“, in den Fünfzigerjahren dazu anregte, weibliche Hormone für die Verminderung der weiblichen Fruchtbarkeit einzusetzen. Die Selbstbestimmung der Frauen, so ihre Hoffnung, könne Wirklichkeit werden, wenn eine Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit gelänge, wenn Frauen es selbst in der Hand hätten, ob, wann und wie viele Kinder sie bekommen wollen.

Die Pharmafirma Schering, die mit Anovlar® 1961 das erste synthetisch hergestellte Hormon-Äquivalent auf den Markt brachte, hatte immense moralische Bedenken gegen diese Indikation. Sie brachte Anovlar® als Medikament zur Regulierung von Zyklusschwankungen heraus und nannte die Verhinderung des Eisprungs nur als Nebenwirkung auf dem Beipackzettel, was den rasanten Durchbruch dieser Verhütungsmethode nur unwesentlich verzögerte.

Die ersten Antibabypillen waren deutlich zu hoch dosiert; in heutigen Präparaten ist nur noch ein Bruchteil der damaligen Substanzmengen enthalten. Hormonelle Verhütungsmittel sind sehr ähnlich wie die beiden wichtigsten weiblichen Hormone, Östrogen und Gestagen, aufgebaut. Sie reduzieren die Fruchtbarkeit fast auf null, wogegen viele andere Östrogenwirkungen erhalten bleiben. Ein Drittel aller Frauen in Deutschland verhüten heute mit der „Pille“ und nehmen damit einen langfristigen Eingriff in ihre Körperfunktionen billigend in Kauf, ohne dass ihnen irgendjemand deswegen noch einen moralischen oder medizinischen Vorwurf machen würde. Dass die Geschlechtshormone sehr komplex wirken, zeigt sich, wenn ihre Produktion im fünften Jahrzehnt – bei Männern später – allmählich zurückgeht, weil die Natur es nicht mehr für sinnvoll hält, in diesem Alter noch Kinder zu erzeugen, zu gebären und großzuziehen. Dann nämlich verschwinden auch die sekundären Merkmale der Fortpflanzungsfähigkeit wie glatte, rosige Haut, sexuelle Attraktivität, Kraft, Libido und Potenz. Frauen wie Männer beobachten argwöhnisch die Zunahme von Gesichtsfalten und Rückenschmerzen, nachlassende sportliche Leistungen, das Ausbleiben der Frühlingsgefühle und brauchen eine ganze Weile, um sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass allmählich eine neue Zeit anbricht.

Doch auch hier gibt es Angebote aus der Hormonküche, die Funktionen des Körpers selektiv zu beeinflussen. Zwar wird kaum eine Frau ihre Fruchtbarkeit wiederherstellen wollen. Aber wenn in dieser Phase Hormonpräparate eingenommen oder aufgetragen werden, die den natürlichen genau entsprechen, statt sie, wie in den Jahrzehnten davor, aushebeln zu wollen, so ist es tatsächlich möglich, die Alterungsprozesse von Haut, Figur und Stoffwechsel deutlich zu verlangsamen und das sexuelle Interesse zu stabilisieren. Viele Frauenärzte – allen voran die Deutsche Gesellschaft für Menopause e. V. – empfehlen Frauen in den Wechseljahren, Hormone einzunehmen, weil dies unter Umständen echte gesundheitliche Vorteile hat.

Es ist allerdings ein Trugschluss, zu glauben, ein „natürliches“ Hormon hätte gegenüber einem synthetisch hergestellten irgendwelche Vorteile. Ganz im Gegenteil: Für die „natürliche“ Gewinnung von Presomen®, einem der meistverkauften Präparate für die Hormonersatztherapie in und nach den Wechseljahren in Deutschland und in den USA, braucht die Herstellerfirma Unmengen von Urin schwangerer Stuten.

Hierfür werden in den USA – in Deutschland wäre dies unmöglich – ca. 70.000 Stuten ein Leben lang in engen Boxen ohne ausreichende Bewegung permanent schwanger gehalten, wobei die neu geborenen Fohlen sofort weggenommen und zum Schlachten gemästet, die Stuten wieder neu gedeckt werden. Der Urin wird über einen fixierten Urinbeutel ständig abgenommen, und die Pferde bekommen teilweise nicht einmal genug Wasser, damit die Hormonkonzentration im Urin möglichst hoch steigt. Die Firma hat nicht vor, das Präparat vom Markt zu nehmen, Protestaktionen von Tierschutzverbänden haben bisher zu keinem spürbaren Umsatzeinbruch geführt. Ärztinnen und Ärzte, die Presomen® verordnen, wissen von der tierquälerischen Herstellung dieses Hormonpräparats in aller Regel nichts; die Firma hält sich in ihren Informationsmaterialien diesbezüglich aus gutem Grund sehr zurück.

Nach diesem unerfreulichen Umweg in die Abwegigkeiten der so genannten natürlichen Arzneimittelproduktion zurück zu der Frage, wie viel Hormon wer wann braucht. Wenn Ärztinnen und Ärzte Frauen in den Wechseljahren ein Hormonpräparat empfehlen, tun sie dies oft nicht nur aus gesundheitlichen Gründen. Gleichzeitig schwingt in einer solchen Empfehlung das Angebot mit, dem Altern davonzulaufen.

Ähnliche Vorstellungen hegen natürlich auch Männer, obwohl das über Jahrzehnte hinweg gemächliche Absinken des Testosteronspiegels es schwierig macht, einen bestimmten Zeitpunkt für den Beginn einer Hormonbehandlung festzulegen. Zudem macht Testosteron allein auch nicht glücklich, denn es erhöht neben Libido und Kraft auch die Aggressivität und die Neigung zu Herzinfarkten – weshalb es im Kraftsport als Dopingmittel ebenso beliebt wie verpönt ist.

DHEA heißt seit einigen Jahren das Zauberwort, ein Hormon aus der Chefetage. Es wird im Gehirn gebildet und ist ein Vorläufer für alle Geschlechtshormone, weibliche und männliche, und vermutlich noch für sehr viele weitere Hormone, deren Wirkungen noch bei weitem nicht alle aufgeschlüsselt sind. Es hat seinen Höchststand um das zwanzigste Lebensjahr und sinkt danach bei Männern und Frauen allmählich bis auf zehn Prozent dieses Höchstwertes ab. DHEA (Dehydroepiandrosteron) wird in der Medizin bei Patientinnen und Patienten eingesetzt, die durch verschiedene Krankheiten rapiden vorzeitigen Alterungsprozessen ausgesetzt sind. Empfohlen wird eine Dosis, die der DHEA-Tagesproduktion eines Zwanzigjährigen entspricht. Da unter DHEA-Einnahme der Testosteronspiegel steigt, wurde die Substanz lange nur für Männer empfohlen. Inzwischen gibt es aber auch immer mehr Frauen, die DHEA einnehmen.

Die Anhänger dieser Hormonbehandlung sagen, sie fühlten sich insgesamt gesünder, leistungsfähiger, sportlicher, sexuell aktiver, seit sie diesen Jungbrunnensimulator einnehmen. Den meisten Ärzten dagegen stehen die Haare zu Berge: DHEA ist nicht rezeptpflichtig, kann gentechnologisch sehr einfach und preiswert hergestellt werden und ist über das Internet spielend leicht auch in Deutschland in rauhen Mengen erhältlich. Zum großen Leidwesen der DHEA-Kritiker häufen sich die Anzeichen, dass dieses Hormon bei mäßigem Einsatz möglicherweise keine bedeutenden Nebenwirkungen hat – außer dass irgendwann der Körper seine eigene, restliche DHEA-Produktion für immer einstellt und mann oder frau dann für den Rest des Lebens DHEA-Kunde bleibt, da ansonsten ein sehr plötzlicher Verfall einsetzen würde. Viele DHEA-Anhänger stört diese Aussicht keineswegs.

Nur – was taugt das alles? Ist es wirklich notwendig, die körperlichen Veränderungen nach der Lebensmitte mit allen Mitteln zu verhindern? Ist für eine positive, kraftvolle Ausstrahlung im Alter und eine gute zweite Lebenshälfte wirklich die dauerhafte Zufuhr von Hormonen erforderlich – ganz gleich ob für Mann oder Frau? Natürlich nicht. In lebensbedrohlichen oder sehr anstrengenden Lebensphasen sinken Östrogen- und Testosteronspiegel auch bei jungen Menschen stark ab. Offensichtlich kommt die immanente Intelligenz der Hormonsteuerung im Gehirn zu dem Schluss, dass es in einer solchen Zeit nicht sinnvoll sein kann, sich der Zeugung zu widmen.

Wenn jemand Angst vor Altern und Tod hat, so stehen ihm in der Regel Gebrechen, Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Schmerzen, ungewollte Einsamkeit und Abbau der Persönlichkeit vor Augen. Die Altersstudie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (www.base-berlin.mpg.de) zeigt, dass alle diese Faktoren sehr stark von der Lebensgestaltung vor dem Älterwerden abhängig sind. Glück und Zufriedenheit sind demnach nicht durch eine hormonelle Dauerverjüngung zu erzwingen. Die Angst vor dem Alter könnte sich als Angst vor der Konfrontation mit einem missglückten Lebensentwurf entpuppen. Hinter der Angst vor dem Tod steckt demnach die Angst, das Leben nicht ausreichend erfahren zu haben.

Hingebungsvolle, hormongetränkte Paarungsrituale mögen ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens sein. Die wohlige Erinnerung daran ein weiterer. Zuzusehen, wie die eigenen Kinder eines Tages ihre ersten ungelenken Versuche auf dem fallenbewehrten Parkett der Liebe machen, gehört ebenso dazu wie – wir kommen zurück zum Beginn der Geschichte – die Betreuung der Enkel, um der eigenen Tochter oder vielleicht auch dem Sohn ein wenig den Rücken freizuschaufeln.

SUSANNA KRAMARZ, 43, ist Ärztin und Medizinpublizistin in Berlin. Sie hat zwei Kinder.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen