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Das faszinierende Stimmengewirr

Goldene Zeiten für Literatur (VI) – Der Trend ist eine Illusion oder: Warum man die gegenwärtigen Autoren loben muss

■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur – schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen

von WOLFGANG HÖRNER

Abfall für alle? Abgesehen einmal davon, dass Abfall sogar etwas Begehrenswertes sein kann, hat er die Qualität des Rainald Goetzschen (erheblich begehrenswerter etwa als Trüffelschäumchen à la Stuckrad-Barre) – die junge deutsche Literatur wird weder schneller noch langsamer geschrieben als die Literatur irgendeiner anderen Epoche. Und: Wie lange an einem Buch geschrieben wurde, sagt meist wenig über seine Qualität.

Goethe soll der „Werther“ höchst flink aus dem Handgelenk geflossen sein, Nabokov die „Einladung zur Enthauptung“. Die rasante Geschwindigkeit, mit der Balzac eine Unzahl hervorragend geschriebener Wälzer ausstieß, ließ die Mit- und Nachwelt derart karpfenmäulig erstaunt zurück, dass sie jahrhundertelang einfach nicht glauben wollte, dass Balzac die Texte auch noch penibel überarbeitete und korrigierte. Robert Louis Stevenson warf die Erstfassung des „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ in nur drei Tagen (!) aufs Papier, Coleridge komponierte ein zwei- bis dreihundert Zeilen langes Gedicht in einem dreistündigen Opiumrausch und verbrachte dann den verbleibenden Rest der Nacht damit, sein Epoche machendes Langgedicht „Kublah Khan“ niederzuschreiben.

Wenn also Tim Krohn für sein im Herbst erscheinendes (und ich möchte behaupten: göttliches) Buch „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ nur zwanzig Nächte brauchte, wenn Steffen Kopetzky „Einbruch und Wahn“ ähnlich schnell fertig stellte: Na und? Es kommt nur darauf an, ob die Bücher gut sind – und die sind’s. Und dass die jungen deutschen Autoren flüchtige Schnellschreiber seien, kann man wahrlich nicht behaupten: Jan Peter Bremer frickelt an einem Hundertseiter zwei bis drei Jahre, Karen Duve saß vier Jahre am „Regenroman“, ebenso Michael Kumpfmüller an „Hampels Fluchten“, ein Buch, das – behaupte ich jetzt kühn – ab August für einige Furore sorgen wird. Der Saarländer Christopher Ecker sitzt seit nurmehr über fünf Jahre an einem dicken Neunhundertseiter, und Detlef Opitz gar nahm sich allein nur für die Recherche seines geplanten Tinius-Romans drei Jahre.

Wie schnell die Bücher dann verschlungen werden, ist natürlich Sache der Leser – vorschreiben kann man ihnen das nicht. Die Briefe mit penibel aufgelisteten Druckfehlerverzeichnissen (auch wenn’s oft keine echten sind), die Reaktionen bei Lesungen und ähnliche Fingerzeige weisen allerdings darauf, dass einige geradezu unglaublich viel Zeit auf Buchlektüre verwenden. Und dass, wer will, mit der neuen Literatur viel Zeit verbringen kann, sei hier behauptet: Sicher, die Neunzigerjahre sind keine Hochburg der Literaturtheorie. Das gerade in Deutschland eklatante Auseinanderklaffen zwischen wissenschaftlichem Studium der Literatur und ihrer Umsetzung in die Praxis (in kaum einem anderen Land haben Literaturwissenschaft und -betrieb ein so leidenschaftsloses, manchmal fast schon feindliches Verhältnis), mag manchem Autor das Nachdenken über Literatur vergällt haben und die Lust am befreiten Erzählen gefördert – ungebildeter oder weniger belesen als früher sind unsere Autoren aber nicht. Sie müssen nur nicht zwanghaft drauf rumreiten. Und das ist gut so: Wenn ich ein Cello vom Instrumentenbauer kaufe, will ich, dass es gut klingt – nicht dass mir der Meister seine Philosophie des Cellobaus auf die Instrumentendecke schnitzt.

Und: Genauso wie pralle Geschichtenerzähler finden sich auch filigrane Stilisten. Szenejargon genauso wie hochstilisierte Kunstsprachen. Offensichtliche literarische Spurensuche kann man nicht nur bei Fonty-Grass, sondern auch bei Jüngeren betreiben – stellvertretend für viele seien hier etwa Thomas Lehr („Nabakovs Katze“) oder Marcus Braun („Delhi“) genannt. Was die neue Literatur ausmacht, ist eben nicht ein einheitlicher Trend, sondern eine geradezu explosive Formenvielfalt, ein faszinierendes Stimmgewirr und Stilgeschnatter. Die meisten freilich eint, dass ein fest gefügter Bezugskanon heutzutage nicht mehr existiert – oder zumindest an den Rändern ausfranst, wilder geworden ist und auf charmante Weise unberechenbar.

Wer sucht, der wird in den Büchern von Jenny Erpbenbeck oder Karen Duve durchaus „klassisches“ Bildungsgut finden; zumindest gleichwertig aber auch Motive aus Kinder- und Jugendbüchern, Mythen und Märchen. Tobias O. Meißner liest mit doppeltem Genuss, wer im modernen Szenefilm und in der Welt der Computerspiele heimisch ist. Bei Thomas Meinecke wirbeln Gender-Study-Parodie und Musik durcheinander. Dümmer sind unsere Autoren nämlich nicht geworden – allein identitätsstiftende Gemeinsamkeiten gehen in der modernen Welt schneller verloren als früher, schon im Schulalter trennen sich die Gruppen der Popmusik-Hörer von der der Klassik-Hörer, die der Computerfreaks von der der Jung-Jet-Setter, die der Comic-Leser von der der Goethe-Leser, die der Fans von Bret Easton Ellis oder Thomas Pynchon von der der Fans von Thomas Mann. In allen Gruppen aber können künftige Autoren stecken.

Gemeinsam sind nur noch die Erfahrung der Werbung und ihrer Slogans und die Erinnerung an die Welt der Kindheit. Vielleicht mag darin ein Grund liegen, dass verdächtig viele neue deutsche Bücher konkrete Rückerinnerungen an Kindheits- und Jugendwelten sind (Christoph Peters, David Wagner, Zoë Jenny oder Christian Kracht); und dass die Selbstbezüglichkeit zum Allgemeinen erhebende Wichtigkeit vom Typ des handkeschen Dichterpriesters oder Weltversteher à la Botho Strauß bei der neuen Generation verschwunden sind; man ist undogmatischer, aber auch beliebiger geworden, das Nebeneinander fremder Welten ist selbstverständlicher geworden – die Erregungsleistung der 70er und 80er fällt den End-90ernschwer.

Massiv geprägt freilich ist die Literaturlandschaft der letzten Jahre von stärker werdendem wirtschaftlichen Druck, und dies wird sich in Zukunft auf die Bücher auswirken. Dass das keine Katastrophe sein muss, zeigt sich am Beispiel Amerika, wo von der Prosa über die Reportage bis zur Lyrik große Literatur unterschiedlichster Couleur entsteht. Die Schere zwischen un- oder gar antikommerzieller Untergrundliteratur und Bestsellern freilich weitet sich. Amerika ist gut für die Eliten und Kommerz. Es überleben wirklich brillante, große Bücher und das breite Feld der leicht verkäuflichen Fabrikware. Schlechte Zeiten für das Experiment und die gehobene zweite Wahl. Ob dieser Weg für Deutschland, Österreich und die Schweiz der richtige ist, mag man freilich anzweifeln: Wie kaum eine andere Literatur hat die deutschsprachige – mit der Ausnahme weniger Jahrzehnte – über dreihundert Jahre hinweg eine grandiose Menge spannender, interessanter und auch heute noch lesbarer „kleinerer“ Autoren aufzuweisen. Und viele „amerikanisch“ erzählende Deutsche brauchen wir eigentlich nicht – da gibt es ja schon die Amerikaner selber.

Gen USA weist momentan dennoch die Entwicklung: Der von den Verlagen selbst angestoßene Trend zu mehr Wirtschaftlichkeit, das Einsparen von Lektoraten und die Ausrichtung am Markt hat über den Katalysator der Konzernbildung in Buchhandel und Verlagswesen sowie die neu entstandenen Agenturen längst auch die Autoren erreicht. Vorbei die Zeiten, da ein Autor seinen Wert allein im Werk sah. Vorbei die Zeiten, in denen schlechte Verkaufszahlen und mangelnde Resonanz in der Presse als Unverständnis gegenüber dem Genie interpretiert wurden. Erfolg scheint auch für Autoren heutzutage fast immer mit Auflagenzahl gekoppelt.

Da im Zeitalter des Bildes und des Fernsehens auch schon die öffentliche Präsenz des Autors wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg bzw. Nichterfolg seines Buches ausmachen kann, sind Denkweisen von Verlagen und Autoren näher gerückt. Die einen verstehen sich vornehmlich als Wirtschaftsunternehmen (anders als andere Kulturzweige müssen sie ja seit jeher ohne millionenschwere staatliche Subventionen auskommen), der Autor versteht sich zunehmend als selbstständiger freier (Wort)Unternehmer. Wirtschaftliche Schwundformen wie Lyrik, Essay, Dramentexte oder Prosaminiaturen haben es in solchen Zeiten immer schwerer. Die Beziehung zwischen Autor und Verlag verwirtschaftet – Erfolgt eint nach wie vor, nur Misserfolg trennt schneller.

Wo ein Verlag auch bei einem durchgesetzten Autor schon mit der Vorschusszahlung hoch ins Risiko gehen muss (weil der Autor oder sein Agent sonst bei anderen Verlagen anklopfen oder ein Konzern selbst mit einem Scheck bereit steht), ist der Spielraum für das Risiko geschwunden, einen jungen Autor mit einem schwierigen Manuskript, einen nur halb durchgesetzten mit einem nicht so guten Buch oder eine schlecht verkäufliche Gattung zu verlegen.

Der auf so fruchtbar prickelnde Weise zerfallene Kanon macht es auch dem armen Rezensenten schwer. In kürzester Zeit soll er Bücher mit ungewöhnlicher Ästhetik oder ungewöhnlichen Inhalten bewerten – obwohl die Erforschung fremder Welten eben seine Zeit braucht. Kein Wunder also, wenn die Kritik auch immer seltener Übersetzung als solche würdigen kann oder ganze Dimensionen literarischer Werke übersieht. Ist ein Buch älter als ein Vierteljahr, gilt es in der Regel inzwischen in der Kritik als schon zu alt, um noch besprochen zu werden. So erfindet sie wirkungsträchtig und debattenfördernd wirklich schön klingende Marken wie „Pop-Literatur“ und „Fräuleinwunder“, unter die sie Teile der prächtig vielfältigen jungen Literatur subsumiert.

Damit freilich macht man auf die gegenwärtigen Entwicklungen nur aufmerksam, gerecht wird man ihnen damit nicht. Nur das Grundphänomen ist erkannt: Es gibt derzeit eine wirklich spannende, vielfältige, bunte und mitunter überraschende deutschsprachige Literatur; darin erinnert sie mich ein wenig an die Zwanziger- und Dreißigerjahre, wo es neben den Manns, Kafka und Döblin eben auch noch alles mögliche andere gab: von Franz Blei bis Walter Benjamin, von Hugo Ball bis Joseph Roth, von Albert Ehrenstein bis Kurt Hiller, von Walter Serner bis Alfred Neumann, von Alfred Polgar bis Max Mohr und von Hans Fallada bis Theodor Vischer, um nur einige zu nennen. Wie damals sind derzeit noch nicht viel mehr als viele hoffnungsfrohe Versprechungen darunter, doch wenige wirklich große Bücher. Aber, Hand aufs Herz, wann gab es davon jemals mehr als vielleicht eins pro Jahr?

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