berliner szenen: Mode und Verzweiflung
Sumatra
In Berlin macht noch die Kleidung den Menschen. Wenn man hier jemanden trifft, der vom Kragen bis zur Socke Schwarz trägt, kann man mit ihm über Satre oder Postrock reden. Eine Frau mit rotem Mantel und Lippenstift hat sie eine Neigung zum Chanson. Hat einer tagsüber einen Anzug an, so träumt er nicht vom Erfolg, sondern hat ihn. Eine Plattentasche: DJ. Schwarze Hornbrille: Architekur oder Heiner Müller. Rastas: Kiffen und HU-Studium. Jeansjacke: Knaak-Club. Hennafarbene Haare: findet es gut, dass es die Köpi gibt. Springerstiefel: Schweißfüße. Die Zeichen entsprechen dem Bezeichneten: Berlin ist modetechnisch 1989 hängengeblieben, im Osten wie im Westen. Zugezogene können sich kaum zwei Wochen gegen diesen Zwang zur Haltung wehren, Hannoveraner fallen erfahrungsgemäß früher um. Entsprechend kann man sich in Berlin sicher bewegen, man kann die Kinderwagenquote in der Kastanienallee ebenso vorhersagen wie die Nazirudel in Lichtenberg und man weiß um die Touristen am Tauentzien. Ein Ereignis am Bahnhof Zoo nimmt diese Sicherheit. „Was willst du? Sumatra oder Brasil?“, rief eine Stimme, und man musste nicht aufsehen, man wusste, dass es sich hier um zwei Jungunternehmer handeln würde, die darauf gieren, ihren Geschmacksvorteil in ihrem Gesicht zu entzünden. Nein. Es waren zwei Punks, gar nicht gut angezogen, Pennerpunks sozusagen, und einer hielt dem anderen die Zigarren hin. Man wird unsicher. Gilt jetzt die Kleiderordnung nicht mehr? Werden Menschen zu Individuen? Berlin kommt in den Neunzigern an. JS
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