piwik no script img

Theater im Gericht

Richter führen Drama über zivilen Ungehorsam auf. Der Anlass: Morgige Berufungsverhandlung vor dem Landgericht wegen Desertionsaufruf

von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA

Der Vizepräsident des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein, Volker Lindemann, tauscht regelmäßig seine Richterrobe gegen einen schwarzen Jesuitenpater-Anzug. Das liegt daran, dass der 62-Jährige zu einer Hamburger Richtertheatergruppe gehört, die morgen Abend im Berliner Kammergericht mit dem einstündigen Drama „Die neun von Catonsville“ des US-amerikanischen Schriftstellers Daniel Berrigan auftritt. Lindemann spielt den Friedensaktivisten und Jesuitenpater Berrigan, der bei einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg staatliche Wehrerfassungsakten verbrannt hatte und sich wegen zivilem Ungehorsam vor Gericht verantworten musste .

Obwohl das Theaterstück auf das Jahr 1968 zurückgeht, ist es – zumindest in Berlin – von größter Aktualität. Seitdem im April 1999 in der taz ein Aufruf erschienen war, in dem Bundeswehrsoldaten während des Kosovokrieges zur Desertion aufgefordert wurden, ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Erstunterzeichner (taz berichtete). Bisher standen 36 Unterzeichner vor dem Berliner Amtsgericht. Sieben wurden wegen Aufrufs zu einer Straftat zu Geldstrafen verurteilt, wogegen sie Berufung einlegten, 28 wurden mit dem Hinweis auf freie Meinungsäußerung freigesprochen. Dagegen legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein.

Morgen findet vor dem Landgericht die erste Berufungsverhandlung statt. Allen bisherigen Verfahren vor dem Amtsgericht ist gemein, dass – bis auf einen einzigen Richter – die Diskussion um die Völkerrechtswidrigkeit des Krieges ausgespart wurde.

Genau darin liegt die Parallele zu dem Theaterstück. Auch in dem Prozess gegen Berrigan und die anderen wurden die Angeklagten daran gehindert, die Motive ihrer Tat darzustellen. Weil das Thema ziviler Ungehorsam unter Berliner Juristen äußerst kontovers diskutiert wird, haben die Berliner Rechtsanwaltskammer und die Vereinigung der Berliner Strafverteidiger die Hamburger Theatergruppe eingeladen.

Gegründet hat sich die Gruppe 1983, anlässlich der Vorbereitung des 6. Richterratschlags, einem Forum kritischer Richter und Staatsanwälte, zum Thema „Ziviler Ungehorsam“. Das letzte Mal waren die schauspielernden Richter vor 13 Jahren in Berlin – anlässlich der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille an Richter, die an einer Sitzblockade in Mutlangen beteiligt waren. Auch damals führten sie das Stück „Der Prozess gegen die Neun von Catonsville“ auf. Volker Lindemann alias Berrigan weist darauf hin, dass diejenigen, die zivilen Ungehorsam leisten, eine Bestrafung in Kauf nehmen müssten: „Sonst ist es kein ziviler Ungehorsam.“ Andererseits kritisiert er aber, dass die Berliner Richter sich der Diskussion um das Völkerrecht nicht stellen.

Morgen, 20 Uhr, bei freiem Eintritt im Kammergericht, Saal 145a, Elßholz-straße 30-33. Eintrittskarten können telefonisch bei der Geschäftsstelle der Rechtsanwaltskammer bestellt werden, Tel.: (0 30) 30 69 31 12

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen