: Eine deutsche Kindheit
von BETTINA GAUS
Anna ist zwölf. Als sie drei war, hat sie jeden Abend das Sandmännchen auf Video gesehen. Zwei Jahre später hörte sie in ihrem Zimmer diese unsäglich dämlichen Kassetten von Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg. Wieder und wieder, Stunde um Stunde, jeden Tag. Die Mutter war genervt, Anna unerbittlich. Aber es kamen Freunde hinzu, die beiden gefielen. Die kleine Hexe und Jim Knopf und der unsterbliche Urgroßvater von James Krüss. Um Barbie und die Diddelmaus entbrannte später ein neuer Kulturkampf, den die Mutter verlor. Heute findet Anna die Prinzen toll, schaut Viva und darf alleine mit Freundinnen ins Kino gehen. Eine deutsche Kindheit.
Allerdings eine nicht ausschließlich deutsche Kindheit. Annas Mutter ist gebürtige Münchnerin, ihr Vater ist Kenianer. Im Alter von eineinhalb Jahren ist sie mit ihren Eltern von Köln nach Nairobi gezogen. Beim Umzug nach Bonn war sie dann acht Jahre alt. Nun lebt sie seit einem Jahr in Berlin. Anna hat Wuschellocken und eine braune Hautfarbe. Gegenwärtig sind erste Schminkversuche angesagt. „Make-up fürs Gesicht werde ich nie brauchen“, sagt sie hoch befriedigt. „Da spare ich viel Geld.“ Die Mutter ist taktvoll und unterlässt jeden Hinweis darauf, dass die ersehnten Rastazöpfchen in Berlin etwa dreimal so teuer sind wie jeder Haarschnitt bei einem Modecoiffeur. Dafür könnte sie sich viel Make-up kaufen.
Vor vier Wochen wird Anna im Bus bedroht. Sie sitzt oben im Doppeldecker, als ein Mann von ihr wissen will, woher sie kommt. Erst reagiert sie aufmüpfig. „Warum?“ Er fragt sie, ob sie Schläge möchte, und sie besinnt sich schnell eines Besseren. „Aus Afrika.“ Warum hat sie nicht gesagt, dass sie in Köln geboren ist? Den abgeklärt-ironischen Blick, den Anna ihrer Mutter auf diese Frage hin zuwirft, sieht man bei der zwölfjährigen Tochter nicht so gerne: „Ich glaube nicht, dass er das hören wollte.“ Die Sprite-Dose, aus der sie gerade getrunken hat, reißt der Mann ihr weg. Körperliche Berührungsängste scheint er wenigstens nicht zu haben. Soll man das nun für einen Fortschritt halten?
Anna hat Angst. „Ich verstehe jetzt, warum jemand so lange nicht darüber hinwegkommt, wenn er zusammengeschlagen wird.“ Zufällig haben sie und ihre Mutter darüber ein paar Tage zuvor geredet. „Ich wusste genau, dass mir die Leute nicht helfen, die hinter mir sitzen. Das war das Schlimmste.“ Warum war sie so sicher? Sie zuckt die Achseln: „Ich wusste es einfach.“ Hinter ihr sitzen zwei etwa 17-jährige Mädchen und ein junger Mann. Anna behält im wörtlichen Sinne Recht. Aber vor ihr steht plötzlich eine Frau mittleren Alters auf und fängt an zu schreien: „Warum nehmen Sie dem Kind das weg? Schaffner, Schaffner, hier oben ist ein Arschloch! Schaffner!“ In diesem Augenblick hält der Bus an der nächsten Haltestelle. Die Frau drängt den völlig überrumpelten Mann die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße, Anna hört noch, wie sie schreit: „Polizei, Polizei! Hier, dieser Mann ... Polizei!“ Dann fährt der Bus an.
Diesen Teil der Geschichte erzählt Anna gerne und ausführlich. Ihre Augen leuchten, und auf ihrem Gesicht malt sich Genugtuung. Es ist dem Mann nicht gut bekommen, dass er sie bedroht hat. Ein versöhnliches Ende? Na ja. Die Tochter steht Busfahrten seither etwas reserviert gegenüber und bittet die Mutter ungewöhnlich häufig, sie doch zum Basketball zu fahren. Eigentlich täte die Mutter das auch am liebsten. Und weiter? Wenn eine Busfahrt im bürgerlichen Berliner Stadtteil Charlottenburg künftig zu den Dingen gehört, die man vorsichtshalber besser unterlässt, dann wird der Aktionsradius für eine Heranwachsende sehr eng. Also fährt die Mutter ihre Tochter nicht. Bloß nicht der Angst die Herrschaft über den Alltag überlassen.
Was ist unumgänglich, will man ein normales Leben führen, was in jedem Falle zu unterlassen, was vertretbar unter Abwägung aller Umstände? Menschen, die Anna lieben, sind gelegentlich geteilter Meinung hinsichtlich des möglichen Risikos, das mit einer Unternehmung verbunden ist. Es kommt zu Auseinandersetzungen, manchmal sogar zum Streit. Die Großeltern wollen nicht, dass Anna sie von Berlin aus alleine in Hamburg mit der Eisenbahn besucht. Sie raten zum Flugzeug. Von Berlin nach Hamburg! Kommt ja überhaupt nicht in Frage! Die Mutter, die unter Flugangst leidet, lehnt kategorisch ab und erinnert ihre Eltern daran, wie sie selbst seinerzeit in diesem Alter ... und überhaupt. Natürlich ließe sie Anna auch nicht in der zweiten Klasse fahren. Schließlich ist sie nicht verantwortungslos. Aber von Pöbeleien in der ersten Klasse hört man doch eher selten.
Anna selbst ist zwiegespalten. Einerseits will sie sehr gerne einmal alleine mit dem Zug fahren. Andererseits nähren solche Diskussionen Ängste. Übrigens bei allen Beteiligten. Wer könnte mit der Schuld leben, wenn ausgerechnet die Maschine, in der Anna sitzt, tatsächlich abstürzte – oder dem allein reisenden Kind in der Eisenbahn wirklich etwas zustieße? So holt denn die Großmutter ihre Enkelin mit dem Intercity ab. Morgens von Hamburg aus hin nach Berlin, mit dem Taxi zur Wohnung und mit dem nächsten Zug zurück. Man muss sich nur zu helfen wissen.
Dieser Satz zieht sich wie ein Leitmotiv durchs Leben. Es ist auch für Menschen mit brauner Hautfarbe nicht besonders gefährlich, in Deutschland zu leben. Vorausgesetzt, sie passen ein bisschen auf. Wählen den richtigen Wohnort aus, verfügen über gute Einkommensverhältnisse, überprüfen die jeweilige Umgebung auf ihren Risikofaktor hin und verzichten gegebenenfalls auch mal auf einen Spaß. Viele derjenigen, die solche Überlegungen nicht anstellen müssen, halten das für durchaus zumutbar. Das Lebensglück hängt schließlich nicht vom Besuch eines Rummelplatzes ab. Nein, das Lebensglück nicht. Aber es geht nicht immer gleich um das Lebensglück.
Letzte Woche sei er an einem Badesee in Brandenburg gewesen, erzählt ein Freund. „Ich glaube, da könntest du mit Anna auch hingehen. Es waren sehr viele Leute da, und auf dem Parkplatz standen nur ganz wenige Motorräder mit diesen rechtsradikalen Emblemen.“ Klingt relativ beruhigend. Die Mutter wählt ein Wochenende, an dem Anna eine andere Verabredung hat, und schaut sich den See einmal an. Wunderschönes, klares Wasser. Nett und freundlich aussehende Badegäste. Ein Boot wird gemietet. Es sind viele Boote unterwegs an diesem Tag, auch ein Kanu, auf dem einige Jugendliche sitzen. „Heil Hitler!“, grölen sie.
Ein unglücklicher Zufall, sicher. Außerdem hätten sie Anna nichts getan, wäre sie dabei gewesen. Wie denn, mit fünf Meter Wasser dazwischen? Wahrscheinlich wären sie sogar an Land friedlich geblieben. Aber „wahrscheinlich“ reicht nicht. Der See wird von der Liste möglicher Ausflugsorte gestrichen. Es gibt ja noch andere, die auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden können. Und hat Anna nicht sehr oft Glück gehabt? Durfte sie nicht Erfurt und Weimar besuchen, ohne dass ihr etwas Böses widerfahren wäre? Wird sie etwa in der Schule diskriminiert? Haben Eltern anderer Kinder je etwas gegen eine Freundschaft einzuwenden gehabt? Na also. Man soll die Situation von Minderheiten auch nicht dramatisieren.
Außerdem wird Ausländerfeindlichkeit doch zunehmend als Problem der Gesamtgesellschaft erkannt. Jedenfalls so lange sich die Ausländer gut benehmen und sich nicht dorthin begeben, wo ihnen ihr gesunder Menschenverstand signalisieren müsste, dass sie in Gefahr geraten könnten. Aber was hat dieses Problem eigentlich mit Anna zu tun? Sie benötigte keine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, um so deutsch zu sein wie Helmut Kohl. Geboren in Nordrhein-Westfalen, deutsche Mutter, deutsche Schule, deutsches Leben. „Ich finde ja toll, wie akzentfrei du sprichst“, sagt jemand. Anna, bei anderen Gelegenheiten für Lob nicht unempfänglich, reagiert eher verwirrt als geschmeichelt. „Wie soll ich denn sonst reden?“ In der Tat – wie sonst?
In der Fernsehsendung „Sabine Christiansen“ berichtet Jörg Schönbohm von einem Gespräch mit einigen Rechtsradikalen, bei dem es auch um das Thema Ausländerfeindlichkeit gegangen sei. Die Jugendlichen haben dem brandenburgischen Innenminister erzählt, dass niemand mit ihnen rede und ihnen irgendetwas erkläre. Ach, so ist das. Diese Jugendlichen wissen einfach nicht, dass man Leute weder beleidigen noch bedrohen noch verprügeln noch umbringen sollte. Wenn ihnen das nur mal jemand sagen würde. Dann wäre das Problem quasi schon gelöst.
Diese Sätze von Schönbohm sind vollständig unakzeptabel. Man stelle sich vor, ein Vergewaltiger rechtfertigte sein Vergehen mit dem Hinweis, niemand habe ihm je erklärt, dass sich ein solches Verhalten nicht gehört. Ungläubige Empörung wäre die einzig vorstellbare Reaktion. Aber der Umgang mit Menschen, die anders aussehen als die Mehrheit hierzulande, wird für außerordentlich schwierig gehalten. Niemand möchte sich dem Verdacht aussetzen, die Komplexität der Problematik nicht zu erkennen.
Ich erkenne diese Komplexität nicht. Sollte irgendjemand meiner Tochter jemals irgendetwas antun, dann werde ich Arbeitslosigkeit, Kommunikationsprobleme und Existenzangst als Begründung dafür nicht akzeptieren. Ich glaube niemandem in Deutschland, dass ihm nur nicht überzeugend genug erklärt worden ist, Anna stelle für ihn keine Bedrohung dar. Null Toleranz.
Übrigens besucht Anna zweimal im Jahr ihren nach wie vor in Kenia lebenden Vater. Immer wieder wird ihre Mutter gefragt, ob sie keine Angst habe, ihre Tochter dorthin reisen zu lassen. Man lese doch in der Zeitung viel über die dramatisch ansteigende Kriminalität in dem ostafrikanischen Land. Nein, ihre Mutter hat keine Angst. Jedenfalls nicht mehr Angst, als wenn sie ihre Tochter alleine mit der U-Bahn zum Zahnarzt an den Potsdamer Platz schickt.
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